Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Außen- 
politik. 
1188 Mebersicht über die politische Entwicklung des Jahres 1914. 
zu begrüßen, ein Ereignis, das von der „Nowoje Wremja“ als die 
Abkehr der Türkei vom Dreibunde gefeiert wurde (S. 862). Am 
4. Juli hat Finanzminister Dschavid Bei in der Kammer einen 
ausführlichen Bericht über den Stand der Verhandlungen mit den 
Großmächten erstattet, wobei er der Überzeugung Ausdruck gab, 
daß „die Erhaltung der Integrität der Türkei zu einem Faktor 
der europäischen Politik geworden sei“ (S. 869). Insgeheim werden 
sich freilich die politischen Führer der Türkei über die wahre Natur 
des von seiten der Ententemächte so plötzlich bekundeten Wohl- 
wollens keiner Täuschung hingegeben haben. 
Zu den siegreichen Nachbarstaaten suchte die Pforte gute 
Beziehungen wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten. Am 
14. März wurde in Konstantinopel der Friedensvertrag mit Serbien 
unterzeichnet. Mit Bulgarien wurde am 31. Juli ein vorläufiges 
Handels= und Schiffahrtsübereinkommen und am 14. Oktober eine 
Post-= und Telegraphenkonvention abgeschlossen. Auch geheime poli- 
tische Abmachungen mit Bulgarien wurden vorbereitet. Bereits 
am 1. August erklärte der bulgarische Ministerpräsident Rados- 
lawow, Bulgariens Beziehungen zur Türkei seien „mehr als 
freundschaftlich“ (S. 902). Auch zwischen der Türkei und Rumänien 
kam eine Annäherung zustande, aus der die Pforte vor allem für 
die Regelung der Inselfrage Nutzen zu ziehen hoffte. Schwieriger 
gestaltete sich das Verhältnis zu Griechenland. Schon eingangs 
(S. 1090 f.) wurde dargelegt, daß durch den Entscheid der Großmächte 
vom 14. Februar Griechenland Inseln zugesprochen worden waren, 
deren Besitz die Türkei als unerläßlich zum Schutze ihrer natio- 
nalen Unabhängkeit und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung bezeich- 
nete. Um ihren nichtbefriedigten Ansprüchen Geltung zu verschaffen, 
sah sich die Pforte, da an einen neuen Waffengang nicht zu denken 
war, auf langwierige Verhandlungen angewiesen. Noch ehe sie ein 
Ergebnis gezeitigt hatten, drohte die Auswandererfrage zu einem 
ernsten Zerwürfnis zwischen den beiden Staaten zu führen. Als Nach- 
wirkung der Balkankriege vollzog sich nämlich in Mazedonien und 
Anatolien ein starker Bevölkerungsaustausch. Zu Tausenden ver- 
ließen Muselmanen die von der Türkei aufgegebenen Gebiete, um 
sich in Kleinasien anzusiedeln, während andererseits zahlreiche
	        
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