Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

Nebersicht über die politische Entwichlung des Jahres 1914. 1199 
Dienste angeboten haben. Es wäre gewiß das schönste Ruhmesblatt 
in der Geschichte der Union gewesen, wenn es ihrem Oberhaupte 
gelungen wäre, durch unparteiische Vermittlung die entzweiten 
Großmächte auf den Weg des Friedens und der Eintracht zurück- 
zuführen. Dazu hätte es freilich von vornherein einer unbefangenen, 
eindeutigen Haltung gegenüber den Kriegführenden bedurft. Aber 
schon die kühle, ausweichende Antwort, die Präsident Wilson für 
den feierlichen Protest Kaiser Wilhelms gegen die Völkerrechts- 
verletzungen unserer Gegner fand (S. 398b, 405 f.), ließ deutlich 
genug ersehen, daß er keineswegs gewillt war, für die „Grundsätze 
der Menschlichkeit“ einzutreten, wenn ihre Verteidigung ihn mit 
den Ententemächten hätte in Konflikt bringen können. Wohl wurde 
auch der amerikanische Handel mit den Neutralen durch die eng- 
lische Willkürherrschaft zur See aufs empfindlichste beeinträchtigt 
und geschädigt, so daß in weiten Kreisen der Union unverkennbar 
eine Mißstimmung gegen England Platz griff, der die Regierung 
wiederholt durch entschiedene Einsprüche (S. 961, 962, 963, 964) 
und scharfe Beschwerden (S. 967 ff.) in London Rechnung tragen 
mußte. Bei diesen papierenen Protesten hatte es jedoch sein Be- 
wenden. Entscheidend für die Beurteilung der Neutralitäts- 
politik der Vereinigten Staaten bleibt doch ihr Verhalten in 
der Frage der Kriegslieferungen. Als am 10. Dezember in beiden 
Häusern des Kongresses eine Vorlage eingebracht wurde, die den 
Verkauf von Waffen und Munition an Kriegführende verbieten 
wollte, erklärte Staatssekretär Briand dem englischen Botschafter, 
daß diese Bill nicht die Unterstützung der Regierung besitze (S. 966). 
Selbst wer sich zu der Ansicht bekennt, daß diese Lieferungen theo- 
retisch mit dem Neutralitätsprinzipe in Einklang zu bringen sind, 
wird bei nüchterner Würdigung der Sachlage einräumen müssen, daß 
sie praktisch einen so gewaltigen Eingriff in das ganze wirtschaftliche 
Leben des Landes darstellten, daß sich daraus schon im Hinblick auf 
die gefährdeten materiellen Interessen eine einseitige Parteinahme für 
den Abnehmerstaat ergeben mußte. Diese Kriegslieferungsfrage bildet 
geradezu ein Schulbeispiel für den Erfahrungssatz, daß ein formales 
Recht durch die immanente Gewalt der tatsächlichen Verhältnisse zu 
einem schweren, folgenreichen Verhängnisse sich entwickeln kann.
	        
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