Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreißigster Jahrgang. 1914. Zweite Hälfte. (55b)

586 Großbrikannien. (Ende September.) 
worden. Diese Empfindung, die auch auf dem Ballplatz selbst gehegt 
wurde, beeinflußte zweifellos den Lauf der Ereignisse, und es ist bedauerlich, 
daß keine Versuche unternommen wurden, durch diplomatische Unterhand- 
lungen die Zusicherung Rußlands und Europas zu irgendeinem friedlichen 
Vergleich in der serbischen Frage zu gelangen, wodurch die Befürchtungen 
Oesterreich-Ungarns vor serbischen Angriffen und Ränken für die Zukunft 
hätten fortgeräumt werden können. Statt diesen Weg einzuschlagen, ent- 
schloß die österreichisch--ungarische Regierung sich zum Kriege. Die unaus- 
bleiblichen Folgen ergaben sich daraus. Auf eine teilweise österreichisch- 
ungarische Mobilmachung und Kriegserklärung gegen Serbien antwortete 
Rußland mit einer teilweisen Mobilmachung gegen Oesterreich-Ungarn. 
Oesterreich-Ungarn tat hierauf den Gegenzug, indem es seine eigene Mobil- 
machung vervollständigte, und Rußland wiederum antwortete durch Hand- 
lungen, die zu dem Gebiet der Geschichte gehören. Das Schicksal der von 
der Regierung Seiner Majestät für die Erhaltung des Friedens gemachten 
Vorschläge ist in dem „Weißbuch“ über die europäische Krisis niedergelegt. 
Am 28. Juli besuchte ich den Grafen Berchtold und legte ihm so 
nachdrücklich, wie ich es vermochte, dar, daß die in Ihrer Unterhausrede 
vom Tage vorher erwähnte Vermittlungsformel als eine ehrenhafte 
und friedliche Lösung der schwebenden Fragen angenommen werden sollte. 
Seine Exzellenz selbst verlas mir einen telegraphischen Bericht über die 
Rede, fügte indes hinzu, daß die Dinge schon so weit gediehen seien: Oester- 
reich-Ungarn habe am Tage selbst Serbien den Krieg erklärt, und es könne 
sich nicht darein finden, daß die von Ihnen angeregte Konferenz unter 
Mitwirkung der weniger beteiligten Mächte auf der Grundlage der ser- 
bischen Antwort stattfinde. Es sei dies ein Gegenstand, der unmittelbar 
zwischen den direkt beteiligten Parteien geregelt werden müsse. Ich erklärte, 
daß die Regierung S. M. mit Bedauern vernehmen würde, daß die Feind- 
seligkeiten nicht ausgehalten werden könnten, und daß Sie befürchteten, sie 
würden zu europäischen Verwicklungen führen. Ich stellte in Abrede, daß 
man auf britischer Seite keine Sympathie mit Oesterreich-Ungarn im Hin- 
blick auf seine berechtigte Beschwerde gegen Serbien habe, und verwies 
darauf, daß, während Oesterreich-Ungarn diese Beschwerden zum Ausgangs- 
punkt seiner Politik machte, die Regierung S. M. sich verpflichtet fühle, 
die Frage in erster Linie von dem Standpunkt der Erhaltung des euro- 
päischen Friedens aufzufassen. Hierbei könne es leicht dazu kommen, daß 
die beiden Länder auseinandergingen. Seine Exzellenz sagte mir, daß auch 
er die europäische Seite der Frage im Auge behalte. Er glaube indes, 
daß Rußland kein Recht zum Eingreifen habe, nachdem es die Versicherung 
erhalten, daß Oesterreich keine Gebietsvergrößerung erstrebe. Seine Ex- 
zellenz bemerkte im Laufe der Unterredung, daß, wiewohl er sehr gern zur 
Erzielung der Regelung mitgewirkt hatte, die während der Balkankrisis 
auf der Botschafterkonferenz in London hervorgegangen war, er doch nie- 
mals viel Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit dieser Lösung gehabt hatte, 
die notgedrungen doch von höchst künstlicher Art gewesen sei, indem die 
Interessen, die es zu einigen galt, an sich wesentlich auseinandergingen. 
Seine Exzellenz beobachtete während dieser ganzen Unterredung eine äußerst 
freundliche Haltung, ließ jedoch bei mir keinen Zweifel über die Entschei- 
dung der österreichisch-ungarischen Regierung, zu einem Einfall in Serbien 
überzugehen. 
Die deutsche Regierung behauptet, daß sie bis zum Ende beie 
dem Bemühen verblieben sei, in Wien Ihre mehrfachen Vorschläge zum 
Besten des Friedens unterstützt zu haben. v. Tschirschky unterließ es, meine 
oder die Mitwirkung des russischen und des französischen Botschafters für 
 
	        
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