Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiunddreißigster Jahrgang. 1916. Zweiter Teil. (57b)

438 Rußland. (Dez. 22.—25.) 
22.—24. Dez. (Moskau.) Mit Gewalt werden Massendemon= 
strationen gegen die Regierung unterdrückt. 
Aus den trotz der Zensur durchgesickerten, aber unsicheren Nachrichten 
über die Vorgänge ist u. a. folgendes zu entnehmen: . 
In den der „Voss. Ztg.“ zugehenden authentischen Mitteilungen 
wird als Signatur ein zu Widerstand und Abwehr bis zum Aeußersten 
bereites Gegenüberstehen von Duma und Regierung betont. Die Vorgänge 
haben sich in den drei Tagen vom 22. bis 24 Dez. abgespielt. Schon Mitte 
Dez. sei es in Moskau bekannt geworden, daß Massendemonstrationen gegen 
die Regierung bevorständen. Geplant wurden sie „innerhalb einer sehr 
großen Reihe der angesehensten gesellschaftlichen Organisationen“, und zwar 
sollten „unzweideutige Resolutionen gegen Krone und Regierung“ nicht nur 
anläßlich der dazu ausschließlich einberufenen Kongresse des allrussischen 
Semstwoverbandes (der Landstände) und des allrussischen Städtebundes, 
sondern auch in zahlreichen Massenversammlungen von russischen Fach- 
vereinigungen angenommen werden. Die allerverschiedensten Berufe waren 
zu diesem Zwecke in und nach Moskau mobilisiert worden. Der Bericht 
zählt eine Anzahl Vereine auf — Arbeiterorganisationen sind nicht darunter. 
Scharfe Resolutionen gegen Regierung und Regierungsform waren vor- 
gesehen, und die Parole wurde ausgegeben, einem schriftlichen Versammlungs- 
verbot der Polizeibehörden keineswegs Folge zu leisten. „Und so erlebte 
Moskau zum ersten Male seit den Revolutionsjahren das höchst bezeich- 
nende Geschehnis, daß an drei Tagen hintereinander 13 allrussische Kon- 
gresse — darunter Semstwoverband und Städtebund, die während der 
Kriegsjahre fast zu zentralen Regierungsbehörden sich emporgeschwungen 
hatten — durch ein Massenaufgebot von Polizei und Militär gewaltsam 
gesprenat wurden, wobei es nicht überall ohne Massenverhaftungen und 
lutvergießen abgegangen ist. Noch am 22. Dez. war der Polizeipräsident 
von Moskau, General Schebeko, nach Petersburg geeilt mit einem Bericht 
an den Ministerpräsidenten, die Kongresse des Semstwoverbandes und des 
Städtebundes seien gewaltsam auseinandergesprengt worden, und mit der 
Bitte um dahingehende Direktiven bezüglich der bevorstehenden Versamm- 
lungen. Bereits am 23. Dez. früh wurden sowohl die Moskauer Polizei 
als der Chef des Moskauer Militärbezirks von Petersburg aus drahtlich 
angewiesen, auch hinsichtlich der übrigen Kongresse nötigenfalls vor keiner 
Gewalt zurückzuschrecken, was denn auch bis Sonntag (24.) nachm. geschah." 
25. Dez. Der Oberbefehlshaber richtet an Armee und Marine 
folgenden Tagesbefehl: 
Mitten im tiefen Frieden griff Deutschland, das sich seit langer Zeit 
heimlich darauf vorbereitete, alle Völker Europas sich zu unterwerfen, vor 
nunmehr über zwei Jahren plötzlich Rußland und seinen treuen Verbündeten 
Frankreich an, was England zwang, sich mit uns zu verbinden und an dem 
Kampfe teilzunehmen. Die vollkommene Mißachtung der Grundsätze des 
internationalen Rechts, wovon Deutschland Proben ablegte und die sich in 
der Verletzung der belg. Neutralität sowie in der unbarmherzigen Grausam- 
keit der Deutschen gegen die friedliche Bevölkerung in den von ihnen be- 
setzten Gebielen ausdrückte, vereinigte allmählich alle großen Mächte 
Europas gegen Deutschland und das mit ihm verbündete Oesterreich. Unter 
dem Drucke der deutschen Armee, die dank ihrer technischen Mittel außer- 
ordentlich stark war, wurden Rußland ebenso wie Frankreich im Laufe des 
ersten Kriegsjahres gezwungen, dem Gegner Teile ihres eigenen Gebietes 
zu überlassen. Dieser zeitweilige Mißerfolg jedoch schlug nicht den Geist 
 
	        
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