Veutsches Reich. (Februar 27.—März 2.) 203
des Volkes geht, zeigt, daß Widerstände zu überwinden sind, die auch jetzt
noch nicht überwunden sind. In dieser Zeit bringt man in Preußen das
Fideikommißgesetz ein. So geht man über die Not des Volkes hinweg.
Vielleicht meint man aber auch, daß man auch in Preußen ein Parlament
mit einem so weit reichenden Verständnis für den fideikommissarischen
Besitz nie wieder bekommen wird. Wir werden uns mit dieser Angelegen-
heit noch ausführlicher beschäftigen. Es kann nicht angehen, daß alles, was
den Herren unangenehm ist, als nicht vereinbar mit dem Burgfrieden hin-
genellt wird. Was man bei uns Burgfrieden nennt, ist nichts anderes als
Angst vor einer kleinen, aber mächtigen Partei. Der Reichskanzler hat heute
Töne angeschlagen, deren wir uns freuen. Er hat auch eine Parallele ge-
zogen mit der Enttäuschung des Volkes nach 1813 und dem, was jetzt
kommen muß. Ich freue mich, daß der Reichskanzler sich vollkommen im
klaren darüber zu sein scheint, daß die neue Zeit in einem erneuerten Volk
bereits da ist. Er zitierte das Dichterwort, daß Deutschlands ärmster Sohn
auch sein getreuester war. Es ist das Wort eines sozialdemokratischen
Dichters, des Dichters Bröger in Nürnberg, und ich freue mich seiner
Anerkennung. Der Reichskonzler hat auch ausgesprochen, daß es sich nicht
um Belohnung handeln kann. Was die deutschen Arbeiter getan haben,
haben sie nicht einer Belohnung wegen getan, sondern weil sie es als
Pflicht erkannten. Aber jetzt muß es auch heißen: Gleiche Pflichten,
gleiche Rechte. Ist es nicht geradezu ein Skandal, was wir beim preußi-
schen Wahlrecht erleben. Da heißt es: „Jetzt nichts und später nichts
Rechtes“. Jetzt ein Dreiklassenwahlrecht wegen des Burgfriedens und später
einmal ein vier-, fünf., sechsfach abgestuftes Pluralwahlrecht. Ich bin neu-
gierig zu erfahren, in welche Schachtel dieses Schachtelsystems die zurück-
kehrenden Feldgrauen eingeschachtelt werden sollen. Die da draußen könnten
nicht die Helden sein, als die wir sie feiern, sie wären vielmehr jämmer-
liche Schwächlinge, wenn sie von dem Recht, das sie zu beanspruchen haben,
das sie sich draußen erneut erkämpft haben, daheim auch nur einen Finger-
breit nehmen ließen. Geben Sie sich keinen Illusionen darüber hin: das
gleiche Recht in Staat und Gemeinde kommt! Es fragt sich nur, wie es
kommt, wen die heranbrausende Welle tragen und wen sie hinwegschwemmen
wird. Wer aber dann untergeht, wird sein Schicksal verdient haben. In
diesem Zusammenhang rufe ich Ihnen auch zu: Schaffen Sie endlich den
Belagerungszustand ab. Er nützt nichts mehr, er schadet, denn er
verdirbt Ihnen die Stimmung im Volk. Er kann nur nach jeder Rich-
tung als Unheil für uns gelten. Namentlich wirken seine Begleiter Zensur
und Schutzhaft verbitternd. Was uns hält und trägt, ist die Einsicht un-
seres Bolkes in die bitteren Notwendigkeiten der Zeit, es ist nicht Kadaver-
gehorsam, es ist Staatsbürgerverstand. Und dieser Staatsbürgerverstand,
der dem Reich nach außen hin seine Freiheit sichert, wird auch im Innern
zur Freiheit und Gleichberechtigung führen. In dieser Zeit, die keine Furcht
kennen darf, wünschen wir uns auch eine Regierung, die den Mut hat
zur befreienden Tat, die der notwendigen Entwicklung die Bahn endlich
öffnet, und zwar jetzt. Auf bloße Versprechungen können wir nichts geben,
und die Geschichte wird den Reichskanzler nicht danach beurteilen, was er
verspricht, sondern danach, ob er geholfen hat, Raum zu schaffen für die
neue Zeit, deren Kommen wir jetzt alle fühlen. Die neue Zeit muß kommen,
denn wozu wäre all das Blut geflossen, hülfe es uns nicht zu einem neuen
großen Fortschritt der Menschheit. Sonst wäre das Ende von alledem nur
hundert Jahre Elend, Verzweiflung, innere Wirren, trostloser Verfall. Ich
glaube an die Zukunft unseres Volkes und daß man auch von ihm wird
sagen können: „Jenen ward der gewaltige Wille und die unzerbrechliche