Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Erster Teil. (58a)

Brutschrs Rrich. (März 14.) 291 
Vertagung angenommen worden. Als wir dieselbe Vergünstigung ver- 
langten, ist sie zurückgenommen worden. Es ist sehr unangenehm, über so 
etwas sprechen zu müssen. Es sind natürlich Kleinigkeiten, ich möchte sagen, 
unzarte Gedanken, aber wenn von jener Seite in dieses Haus herüber- 
geschossen wird, dann müssen wir auch entsprechend antworten können. 
Was war denn die Hauptsache bei der Vorlage? Die Anwesenheitsgelder, 
denn die Frequenzverhältnisse hier im Hause sind nicht gerade befriedigend; 
das wird selbst der glühendste Verehrer des Abgeordnetenhauses nicht be- 
haupten können. Ein weiteres Kuriosum des Redners im Herrenhause war, 
daß er behauptete, die Abgeordneten hätten kein Recht zur Information, 
sie grifsen damit hinüber in die Exekutive. In der Verfassung sei dazu 
keine Handhabe geboten. Das ist ein so eigentümliches Argument, daß es 
nur in einem Kopfe entstehen kann, der allerdings ganz eigentümlich 
organisiert ist. Das hängt mit dem ganzen Gedankengang des Redners 
zusammenz; er ist sogar so reaktionär, daß er die Verdeutschung des Wortes 
„Legislaturperiode“" als unzulässig empfindet. Alles, was aus dem Reichstag 
kommt, lehnt er ab, ja, er geht so weit, zu sagen, man könnte mit größerem 
Rechte als eine Angleichung Preußens an das Reich fordern, daß eine An- 
gleichung des Reiches an Preußen stattfindet. Das ist ein schöner Grundsatz 
nach der Errichtung des Deutschen Reiches, eine schöne Dankbarkeit gegen- 
über dem Schöpfer des Deutschen Reiches. Mit solchen Grundsätzen kann 
man freilich keine moralischen Eroberungen in Deutschland machen. (Leb- 
hafte Zustimmung. Zurufe: Auch im Auslande nicht!) Im übrigen spielte 
der Redner darauf an, daß beim 80. Geburtstag des Fürsten Bismarck 
eine Anzahl Parlamentarier sich demonstrativ nicht beteiligt hätten. Wenn 
er schon diesen Geburtstag anführte, so hätte er aber auch nicht vorüber- 
gehen dürfen an der Rede, die Fürst Bismarck damals gehalten hat. Ich 
habe das Glück gehabt — es gehört das zu den schönsten Erinnerungen 
meines Lebens — diese Rede zu hören. Damals hat Fürst Bismarck ge- 
rade das Gegenteil von dem gesagt, was dieser konservative Redner aus- 
geführt hat. Fürst Bismarck sagte damals: „M. H., in allen Parlamenten, 
seien es preußische, bayerische, sächsische usw., sollen Sie niemals den Reichs- 
gedanken aus dem Auge verlieren, Sie sollen sich stets bewußt sein, daß 
es keine besonderen preuß., sächs., bayer. Angelegenheiten gibt, daß stets 
das Reich voranstehen muß in Ihren Erwägungen, und daß das, was in 
einem Teile des Reichs geschieht, nicht ohne Rückwirkung auf die andern 
bleiben kann.“ Das ist eine wahrhaft staatsmännische, patriotische Auffassung 
gegenüber diesem übel angebrachten Partikularismus, der sich noch immer 
nicht damit abfinden kann, daß Preußen ebenfalls, wenn auch ein wichtiges, 
so doch immer nur ein Glied des Reiches ist. Dann fehlten in der Rede 
auch nicht die üblichen Seitenhiebe auf das Berufsparlamentariertum, 
das dem praktischen Leben fernstehe. Der Redner behauptete auch, es 
werde das Berlinertum durch das Gesetz gefördert, und es könne sich viel- 
leicht in Berlin eine Nebenregierung aufmachen. (Zuruf Ad. Hoffmann: 
Hotel Adlon! Gr. Heiterk.) Nun, mag der Berufsparlamentarier dem prak- 
tischen Leben fernstehen, so sammelt er jedenfalls eine Fülle von politischen. 
Erfahrungen, und wenn diese auch im Herrenhause etwas stärker vertreten 
wären, so wäre das gewiß sehr wünschenswert. Was die angebliche Neben- 
regierung in Berlin betrifft, so kann ich nur sagen, daß die hier in Berlin 
wohnenden Abgeordneten meist sehr froh sind, wenn die Session zu Ende 
ist. Aber diese Ausführungen über die Berufsparlamentarier haben neben 
der mehr komischen auch eine ernste Seite. Was hat denn eigentlich der 
Parlamentarier in Deutschland für Vorteil? Ich wüßte nur den einen, 
daß er das Bewußtsein hat, seine Pflicht nach bestem Wissen erfüllt zu 
19“
	        
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