Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiunddreißigster Jahrgang. 1917. Erster Teil. (58a)

480 Nersées Neic. (Mai 3. 
trügen. Wenn man alles in allem nähme, nicht nur das Gut, sondern 
auch das Blut, dann könne man sagen, daß die von Polen getragenen 
Opfer nicht an die Opfer heranreichten, die Deutschland sich auferlege. 
Der polnische Staatsrat, gewissermaßen die Urzelle des künftigen polnischen 
Staatswesens, sei mit beratenden Befugnissen bei der Gesetzgebung aus- 
gestattet, ferner mit der Mitwirkung an der Schaffung staatlicher Ein- 
richtungen betraut und werde schließlich bei Ausübung der Verwaltung in 
dem Umfange, den die Verhältnisse gestatteten, herangezogen. Die Ungeduld 
der Polen, auch dem Staatsrate gegenüber, und der Vorwurf, der Ausbau 
des Staatswesens gehe zu langsam vor sich, seien begreiflich. Allein ab- 
gesehen von den Kriegsverhältnissen mache die große Zersplitterung Polens 
auf dem Gebiete der Konfessionen, Nationalitäten und vor allem auch der 
Parteien, im Verein mit dem gänzlichen Mangel an geschulten polnischen 
Beamten, die erst herangebildet und einstweilen durch deutsche Beamte er- 
setzt werden müßten, diese Aufgabe doppelt schwierig. Der Staatssekretär 
kommt zu dem Schluß, daß die von den Zentralmächten mit der Pro- 
klamation vom 5. Nov. 1916 angekündigte Polenpolitik auch heute noch die 
einzig richtige und mögliche sei. 
Abg. Nehbel (Kons.) teilt mit, die auch dem Offizierkorps unerwünschte 
Grußpflicht in Ober-Ost sei wieder aufgehoben worden. 
Zum Schlusse wird folgende gemeinsame Entschließung angenommen, 
den Reichskanzler zu ersuchen, dafür Sorge zu tragen, daß 1. sämtlichen 
im Reiche beschäftigten Arbeitern aus dem Okkupationsgebiet Polens und 
Litauens — unbeschadet der polizeilichen, allen Ausländern gegenüber ge- 
übten Kontrolle — im Verhältnis zum Arbeitgeber gleiche Rechte wie den 
einheimischen Arbeitern gewährt werden, insbesondere das Recht zum Wechsel 
der Arbeitsstätte; 2. daß diese Arbeiter nicht gehindert werden, nach Ab- 
lauf des Dienstvertrages in die Heimat zurückzukehren. 
3. Mai. Die großen wirtschaftlichen und nationalen Ver- 
bände erlassen folgenden Aufruf gegen einen Verzichtfrieden: 
In Schlachten von niemals geahnter Ausdehnung und Furchtbarkeit 
stehen unsere unvergleichlichen Heere im Entscheidungskampfe um Sein und 
Nichtsein des Reiches. Arbeiter und Fürstensöhne, der Landmann und der 
Handwerker, der Gelehrte und der Kaufmann, alle Berufsstände wetteifern, 
einen lebendigen Wall zum Schutze des Vaterlandes zu bilden. Und wir 
in der Heimat? Wir dürfen jetzt nur den einen Gedanken haben, der unser 
Dasein ausfüllen soll: Auch an unserer Stelle das Höchste zu leisten, was 
menschliche Kraft vermag, um das Rüstzeug für die Front zu schaffen und 
um wirtschaftlich durchzuhalten bis zum siegreichen Ende. Wie aber sollen 
wir in Zukunft durchhalten, wenn im eigenen Volke die Forderungen nach 
einem Frieden ohne Kriegsentschädigung und ohne Gebietserweiterung un- 
widersprochen sich erheben? Niederdrückend, lähmend und beschämend zu- 
gleich müssen alle vaterländisch gesinnten Kreise solche Forderungen em- 
pfinden. Wir brauchen Entschädigungen für die ungeheuren Opfer 
unseres Volkes, um unser wirtschaftliches, kulturelles und soziales Leben 
auch nach siegreichem Frieden wieder aufbauen und die Fürsorge für die 
Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen unserer gefallenen Helden sicher- 
stellen zu können. Es gilt, unsere Grenzen besser zu schützen, unsere See- 
geltung zu stärken und durch Erweiterung unserer Rohstoffgewinnung unsere 
Industrie zu fördern und unsere Rüstung zur Verteidigung des Bater- 
landes sicherzustellen. Wir brauchen Siedlungsland für die Kräftigung 
unseres Bolkes und für die Mehrerzeugung von Nahrungsmitteln. Ein 
Frieden unter Verzicht auf jede Forderung schafft unserem Volke keine Er-
	        
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