Penisches Reich. (Mai 4.) 483
ausschreit. Es ist die Selbstverständlichkeit dieses Kriegserlebnisses, das uns
in seiner Ausdehnung durch unsere ungünstige geographische Lage, diese
unglückselige Mitgift Deutschlands, beschert wurde, daß der Lohn der Opfer
die Sicherheit vor einem ähnlichen Erlebnis sein muß. Es ist ebenso selbst-
verständlich, daß wir als Kriegsergebnis die möglichste Erleichterung des
wirtschaftlichen Wiederaufbaus davontragen müssen. Das übrige, das in
der Agitation der äußersten Rechten und der äußersten Linken immer wieder
mit dem einzigen Erfolg der Stimmungsschädigung vorgetragen wird, ist
eine Vertrauensfrage. „Verzichtfrieden“, „Annexionsfrieden“ sind leere
Schlagwörter, die agitatorisch mit dem Inhalt des Mißtrauens gefüllt
werden. Dieses Mißtrauen soll dazu beitragen, bestimmten politischen Welt-
anschauungen in einer Angelegenheit zum Siege zu helfen, die vor allem
nach den Kriegsergebnissen und den deutschen Bedürfnissen begründet werden
muß. Daß die deutsche Regierung nicht soz.-pazifistisch ist, braucht, dächten
wir, nicht mehr ausdrücklich versichert zu werden, daß sie nicht napoleonische
Eroberungsgelüste hat, steht ebenso fest. Soll sie beides heute noch einmal
versichern? Jeder Vernünftige wird das für überflüssig halten. Daß sie
mit der Heeresleitung wie bisher, so auch in der Friedensfrage Schritt
für Schritt, Stunde für Stunde zusammenarbeitet, wissen wir. Was wir
verlangen, ist, daß sie das Problem unserer Zukunft richtig erfaßt und sich
darüber unter Mitwirkung aller derjenigen orientiert, die hierzu etwas
Wichtiges zu sagen haben, und daß sie, wenn es soweit ist, demgemäß ver-
handelt. Daß ihr die Forderungen aller Parteien, aller Gruppen und Ver-
bände deutlich vorgetragen werden, ist notwendig und nützlich. Darüber
hinaus müssen wir vertrauen, schon deshalb, weil kein Fernstehender die
Verhältnisse in diesem Kriege überblicken und gegeneinander abwägen kann.
4. Mai. Die Natl. und das parlamentarische System.
Die „Köln. Ztg.“ teilt aus der „Nationallib. Korr.“ folgende partei-
offiziöse Auslassungen mit: Der Verfassungsausschuß des Reichstags hat
sich nunmehr gebildet. Nach Ansicht der natl. Reichstagsfraktion scheidet
ein Beratungsgegenstand von vornherein aus. Die Fraktion ist sich darüber
einig, daß nach der Osterbotschaft des Kaisers die Frage der preuß. Wahl-
rechtsreform nichts mehr mit den Aufgaben des Reichsausschusses zu tun
hat. Eine eingehende Aussprache fand in der natl. Reichstagsfraktion über
die Frage des parlamentarischen Systems statt. Man war sich dar-
über einig, daß eine Verfassungsänderung zum Zweck der Einführung dieses
Systems nicht in Frage kommt. Die Absicht der Fraktion geht in dieser
Frage dahin, eine stärkere Beteiligung des Parlaments auch an der Aus-
übung der Regierungsgewalt zu erzielen. Es wird sich zunächst darum
handeln, zwischen dem Reichstag und der Regierung eine engere Fühlung
herzustellen, eine Fühlung, die äußerlich darin ihren Ausdruck finden müßte,
daß man Abgeordnete auf den Posten von Staatssekretären beruft. Man
denkt sich die Anbahnung einer solchen engeren Fühlung auf dem Wege
der natürlichen geschichtlichen Entwicklung. Diese Frage unseres Verfassungs-
lebens scheint von vornherein auf eine falsche Lösung eingestellt, wenn man
sie als ein parlamentarisches Recht betrachtet, das die Regierung verleihen
müßte. Es handelt sich nicht um die Uebernahme eines fertigen
Systems nach auswärtigem Muster, sondern um die Förderung
einer Entwicklung, die von der Inanspruchnahme eines stärkeren parla-
mentarischen Einflusses ihren Ausgang nimmt und damit den Reichstag
und die Regierung in engere Fühlung bringt. Die natl. Fraktion glaubt
zur Anbahnung einer solchen Entwicklung in dem Verhältniswahlrecht
eine gewisse Vorbedingung zu erblicken, da durch dieses Wahlrecht für die
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