190 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 60.
verpflichtet sind, der Kammer beliebige Rede und Antwort zu stehen, denn der Landtag
ist nicht ihr Vorgesetzter. Vielmehr sind sie zur Ertheilung von Aufschlüssen und Ab-
abe von Erklärungen nur in Betreff der an die Kammern gerichteten, von diesen
ihnen zur Auskunftsertheilung überwiesenen Beschwerden verpflichtet (Art. 81). Ferner
ist jede Kammer unzweifelhaft berechtigt, ihre Zustimmung zu den betreffenden An-
forderungen der Staatsregierung zu verweigern, wenn bei der Feststellung des Staats-
haushaltsetats (Art. 99), sowie in Bezug auf Etatsüberschreitungen, deren nachträgliche
Genehmigung nachgesucht wird, und bei Prüfung der Rechnungen über den Staats-
“ die Minister die geforderte Auskunft nicht ertheilen (v. Rönne Bd. 1
73 S. 323 Anm. 1). Eine Befugniß einzelner Mitglieder des Landtages, an die
Minister Anfragen zu stellen, sie zu interpelliren, ist in der Verfassungsurkunde selbst
nicht aufgestellt, dagegen in den beiden Geschäftsordnungen anerkannt und näher geregelt.
Die Geschäftsordnung des Herrenhauses verfügt in
51.
Interpellationen an die Staatsregierung müssen, bestimmt formulirt und
von einem Mitgliede als Interpellanten und außerdem von mindestens 20 Mit-
Heedern unterzeichnet, dem Präsidenten überreicht werden, welcher dieselben dem
taatsministerium abschriftlich mittheilt, sodann drucken und vertheilen läßt. In
der nächsten Sitzung fordert der Präsident vor Eintritt in die Tagesordnung die
Staatsregierung zur Erklärung darüber auf, ob und wann sie die Interpellation
beantworten werde.
Erklärt die Staatsregierung sich zur Beantwortung bereit, so wird an dem
von ihr bestimmten Tage der Interpellant zur näheren Ausführung der Inter-
pellation verstattet.
An die Beantwortung der Interpellation oder deren Ablehnung darf sich eine
sofortige Besprechung des Gegenstandes derselben anschließen, wenn mindestens 30 Mit-
glieder darauf antragen. Die Stellung eines Antrages bei dieser Besprechung ist
unzulässig, es bleibt aber jedem Mitgliede überlassen, den Gegenstand in Form eines
Antrages weiter zu verfolgen.
Die Geschäftsordnung für das Abgeordnetenhaus §§ 33, 34 verlangt eine Unter-
zeichnung der Interpellation von mindestens 30, eine Beantragung der Besprechung von
mindestens 50 Mitgliedern, enthält nicht die Vorschrift über Druck und Vertheilung der
Interpellation, wohl aber schließlich den — in der Sitzung des Hauses vom 5. De-
zember 1877 angenommenen — Zusatz:
Anträge im Sinne des Artikels 60 der Verfassungsurkunde Alinea 2 sind
jederzeit zulässig
und stimmt im Uebrigen mit dem obigen § 51 überein. Somit wird durch beide Ge-
schäftsordnungen die Interpellationsbefugniß soweit beschränkt, daß die Minister gegen
Belästigungen durch unziemliche Neugierde geschützt sind, und zugleich anerkannt, daß
eine Verbindlichkeit zur Beantwortung der Interpellationen nicht besteht. Die Beant-
wortung einer Interpellation über den Gegenstand noch schwebender Verhandlungen
mit einer auswärtigen Regierung wird nach allgemeinem konstitutionellen Gebrauche
regelmäßig verweigert. Zu beachten ist, daß die Interpellation im parlamentarischen
Sinne sich auf einen Gegenstand bezieht, der nicht ohnehin schon in der derzeitigen par-
lamentarischen Verhandlung und Berathung begriffen ist. Ist der Gegenstand dergestalt
einbegriffen, wünscht also ein Kammermitglied z. B. bei der Berathung des Etats für
das Ministerium der öffentlichen Arbeiten Auskunft über den Stand der Vorarbeiten
für eine bestimmte Eisenbahn, so mag es geradezu, ohne an die Formalitäten der Inter-
pellation gebunden zu sein, fragen, wobei es allerdings dem Ermessen des gefragten
Minister- wiederum überlassen bleibt, die Frage zu beantworten oder unbeantwortet
zu lassen.
Schließlich die Frage, ob ein Minister (Regierungskommissar, Assistent) der Dis-
ziplinargewalt des Präsidenten des Hauses unterstehe, muß unbedingt verneint werden.
Allerdings steht Tadel oder Mißbilligung der von den Ministern zu vertretenden Re-
gierungshandlungen, steht Erklärung zum Sitzungsprotokoll über stattgehabte Verletzung
der Gesetze, zumal der Verfassungsurkunde, den Kammern frei, wenn auch damit kein
juristischer Effekt verbunden ist. Aber weder der Präsident noch die Kammer selbst kann
Richter des Verhaltens der Minister in der Versammlung sein, es kann daher auch keine
Rüge gegen sie ausgesprochen oder beschlossen, sondern nur Beschwerde wider sie beim
Könige geführt werden. Die Minister gehören weder zu den Mitgliedern, noch zu dem
Verwaltungs= und Dienstpersonal des Hauses, nöch sind sie auf Grund der Oeffent-