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Hier muss man unterscheiden. Entweder handelt der Be-
schuldigte im guten Glauben oder nicht. Ist ersteres der Fall,
handelt es sich um eine Meinungsverschiedenheit über Auslegung
der Verfassung. Von Strafbarkeit kann in solehem Falle nicht
die Rede sein. Vielmehr ist da der verfassungsmässige Weg der,
durch die Initiative die Sache in die Bürgerschaft zu bringen und
nach Artikel 70ff. einen Spruch des Reichsgerichts herbeizuführen.
Wenn dagegen bewusst die Verfassung ausser Acht gelassen
ist, so ist angesichts der kollegialen Verfassung des Senats und an-
gesichts der Superiorität des Plenums über den einzelnen schlecht-
hin ein Fall frevelmütiger Verfassungsverletzung undenkbar,
allein die Verletzung aus Gründen der Staatsraison ist möglich.
Also auch hier ist die Entscheidung wieder gestellt im letzten
Moment auf die politische Zweckmässigkeitsfrage. Ist aus
einem solchen, naturgemäss schwer wiegenden Grunde eine Ver-
fassungsverletzung vorgekommen, so ist der Weg der Sühne das
Nachsuchen der Indemnität, nicht der des politischen Straf-
gerichts, so wie er in Preussen nach der Konfliktszeit ein-
geschlagen wurde. Man denke zum Beispiel, dass es am 27.6.
und 4.7. 1866 nicht gelungen sein würde, die Zustimmung der
Bürgerschaft zum Anschluss an Preussen zu erhalten. Für ein
verfassungswidriges, dann aber politisch notwendig gewordenes
einseitiges Vorgehen würde der Senat zweifellos später eine
Indemnität gefunden haben. Durch das drohende Gespenst einer
persönlichen, in Strafform gekleideten Verantwortlichkeit die
freie Entschliessung der den Staat tragenden Regierung zu lähmen,
wie die Manen der Konstituante es noch immer scheinen fordern
zu wollen, das heisst unter Umständen den staatlichen Selbstmord
billigen.
Für die Anwendung des in der Verfassung angekündigten
Verantwortlichkeitsgesetzes ist also im heutigen Staats-
recht kein Raum, eine Wahrheit, die auch dadurch anerkannt
ist, dass der hamburgische Staat ohne jeden Schaden dies Gesetz
Jetzt auch schon über 40 Jahre lang hat entbehren können.
Da damit aber die Frage der Anteilnahme der Bürgerschaft
an der Disziplinargewalt im negativen Sinne erledigt ist, ist
demnach das in Artikel 6 der Verfassung aufrecht erhaltene
gemeinsame Kyrion praktisch allein auf die gemeinsame
Gesetzgebung reduziert.