* 10. Natur und Jnhalt der Herrschergewalt. 19
„Der König“", heißt es weiter (Tit. II § 1), „ist das Oberhaupt des Staates, ver-
einigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den von Ihm gegebenen in
der gegenwärtigen Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus“.
In diesem Satze ist das Wesen des Königtums zu scharfem und bezeichnendem Aus-
drucke gebracht. Dasselbe leitet seine Gewalt aus keiner Rechtsquelle, insbesondere aus
keiner Uebertragung durch das Volk oder den „Staat“ ab. Es herrscht aus eigener Macht
und eben deshalb kennt diese Macht kein Gebiet, das rechtlich ihrer Einwirkung entzogen
wäre. Die Staatsgewalt bestimmt den Umfang ihrer Tätigkeit selbst.
Wenn sonach die Verfassungsurkunde vom Könige sagt, daß er in sich alle Rechte
der Staatsgewalt vereinige, so hat dies den doppelten Sinn, daß er sein Recht in sich selbst
und von niemandem zu Lehen trägt, und daß seine Gewalt eine allumfassende 1) ist.
Die königliche Gewalt besteht nicht kraft der Verfassungsurkunde, sondern die Ver-
fassungsurkunde kraft der königlichen Gewalt. Die Verfassung ist eine vom Könige ge-
gebene und es hat einen tiefen Sinn, daß sie selbst die Sicherheit für ihre Einhaltung
durch den König nicht in irgend einer Menschen gegenüber eingegangenen Verpflichtung,
sondern in einem religiösen Gelöbnisse, dem Eide sucht.
Die rechtliche Unbeschränktheit der Staatsgewalt in Bezug auf ihren Umfang
schließt eine Selbstbeschränkung des Herrschers in Bezug auf die Ausübung dieser Ge-
walt nicht aus. Auch das verfassungsmäßige Königtum, das an die Mitwirkung der
Volksvertretung und an die Einhaltung der unter dieser Mitwirkung erlassenen Gesetze
sich gebunden hat, ist wahres Königtum. Die bayerische Verfassungsurkunde enthält sonach
keinen Widerspruch, wenn sie einerseits die Vereinigung aller Rechte der Staatsgewalt im
Könige, andererseits die Ausübung dieser Rechte nach den verfassungsmäßigen Bestimmungen
ausspricht.
Dabei ist selbstverständlich, daß diese Gebundenheit des Königs in der Ausübung
der Staatsgewalt nicht nur auf dassjenige sich erstreckt, was in der Verfassungsurkunde
selbst festgesetzt ist, sondern ebenso auf all das, was auf Grund der Verfassungsurkunde
weiter sich entwickelt hat. Auch diejenigen Beschränkungen, welche dem Könige in der Aus-
übung seiner Herrschaft aus dem Eintritte Bayerns in das Reich erwuchsen, sind auf dem
Wege der verfassungsmäßigen Fortgestaltung des öffentlichen Rechtes entstanden.
Eine notwendige Folge der Herrscherstellung des Königs ist dessen Unverantwort-
lichkeit; denn eine Verantwortlichkeit dessen, der Niemanden über sich erkennt, ist rechtlich
nicht möglich. Die Verfassungsurkunde (Tit. II § 1) erklärt die Person des Königs als
aheilig und unverletzlich“. Aus dieser Unverantwortlichkeit des Königs ergibt sich, daß
er wegen Regierungshandlungen überhaupt nicht, wegen privater Handlungen nicht straf-
gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann?). Wo dagegen der König außerhalb des
Gebietes des öffentlichen Rechtes im vermögensrechtlichen Verkehre sich bewegt, kann er
unbeschadet seiner Herrscherstellung vor den Gerichten Recht nehmen. Der König tut dies
auch, und zwar sowohl in seiner Eigenschaft als Inhaber des Staatsvermögens (Aerar),
wie nicht minder als Inhaber seines eigenen Privatvermögens (Zivilliste). Die Unverletz-
gemeinen Staatslehre 1873 (Freiburg 1889); Vorträge aus dem allgemeinen Staatsrecht (Son-
derabdruck aus den Annalen) München 1903. Die Seydel'sche Grundauffassung ist wie jede
Staatsdefinition vielfach angegriffen worden, vgl. darüber u. a. HK. Rehm, allgemeine Staatehre
S. 114 ff. Loening im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 2. Nufl. Bd. S. 907 ff.
J. Lukas, die rechtliche Stellung des Parlaments Graz 1900, S. 35 ff.
1) Der von H. Rehm, die staatsrechtliche Stellung des Hauses Wittelsbach zu Bayern in
Vergangenheit und Gegenwart, Erlangen 1901, ausgesprochene Satz (S. 18): „Die Staatsgewalt ist
im heutigen Staatswesen geteilt zwischen Fürst, Volk und Dynastie“ ist staatsrechtlich für Bayern
nicht haltbar und auch sonst unzutreffend.
2) leber die Sonderstellung der Landesherren und ihrer Familien im Gebiete des deutschen
Reiches vgl. auch Laband, Staatsrecht III S. 370 ff.
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