Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

738 II. 2. Belle Alliance. 
noch um einige Wochen hinaus. Um den Sachsen sein Vertrauen zu 
zeigen nahm Blücher in Lüttich mitten unter ihnen sein Hauptquartier. 
Aber seine herzliche Ansprache fand taube Ohren; der Groll der Truppen 
stieg von Tag zu Tag, die ganz bonapartistisch gesinnten Quartierwirthe 
des Lütticher Landes regten die Verblendeten noch mehr auf. 
Als endlich auf einen neuen königlichen Befehl am 2. Mai die Theilung 
der Armee angeordnet wurde, da brach die so lange von Dresden her ge— 
schürte und unzweifelhaft auch durch einzelne gewissenlose Offiziere genährte 
Erbitterung der Mannschaft furchtbar aus. Trunkene Soldatenhaufen 
stürmten unter dem Rufe „wir lassen uns nicht theilen“ das Haus des 
Feldherrn. Der alte Held mußte fliehen vor seinen eigenen Soldaten; nur 
durch die Tapferkeit seiner sächsischen Wachen entging er dem Tode. Auf die 
Willenskraft und das sittliche Ansehen der Offiziere kommt bei solchen Aus— 
brüchen der Roheit Alles an. Die sächsische Wache vor Blücher's Thor that 
ehrenvoll ihre Soldatenpflicht; die Reiterei und die Artillerie hielten sich 
dem wüsten Treiben ganz fern. Auch unter dem Fußvolk blieb die Mann— 
schaft überall da ruhig, wo die Führer sie zu beherrschen verstanden; selbst 
solche Offiziere, die sich bereits für den preußischen Dienst gemeldet hatten, 
behaupteten ihr Ansehen, wenn sie nur tüchtig waren. Jenes Bataillon 
dagegen, das schon zur Zeit der Dennewitzer Schlacht, früher als die 
anderen Sachsen, zu den Preußen übergegangen war, zeichnete sich in 
Lüttich durch seine Zuchtlosigkeit traurig aus.) 
Nachsicht gegen diese fast im Angesichte des Feindes begangene Meuterei 
wäre schimpfliche Schwäche gewesen. Das Kriegsrecht nahm seinen Gang, 
die Rädelsführer wurden erschossen, die Fahne der sächsischen Garde vor 
der Front verbrannt. General Borstell, der sich aus Mitleid mit den 
Unglücklichen geweigert hatte, die Verbrennung der Fahne vorzunehmen, 
büßte seinen Ungehorsam auf der Festung; an seiner Stelle übernahm 
General Pirch den Befehl über das zweite Armeecorps. Dann mußte 
das sächsische Corps den Rückmarsch in die Heimath antreten, da die 
preußischen Soldaten, wüthend über die dem Marschall Vorwärts an- 
gethane Schmach, mit den Sachsen nicht zusammen fechten wollten, und 
Wellington sich weigerte die meuterische Truppe in sein Heer aufzunehmen. 
Schuldige und Unschuldige gingen des Schlachtenruhms von Ligny und 
Belle Alliance verlustig. Auf dem Rückmarsch erfuhren die Sachsen viel- 
leicht das Entsetzlichste, was jemals deutsche Krieger ertragen haben. 
Ueberall am Rhein und in Westphalen grimmiger Haß und Abscheu gegen 
die Meuterer; in Aachen besetzten bewaffnete Bürger argwöhnisch die Wachen 
und Thore, als die sächsischen Regimenter vorbeikamen. Ueberall jubelte 
das Volk über den neuen strahlenden Sieg Blücher's und Gneisenauf's. Die 
*) Ich benutze hier u. A. die Aufzeichnungen meines Vaters, der als blutjunger 
Offizier bei einem sächsischen Regimente in der Nähe von Lüttich stand und seine Leute 
im Zaume zu halten wußte. 
 
	        
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