Offentliches Verfahren. Der Polenprozeß. 561
zianische Allgemeine Landrecht schließlich nur darum veröffentlicht worden,
weil die neuen, durch die Teilung Polens erworbenen Provinzen schlechter—
dings sofort einer geordneten Rechtspflege bedurften. Dem jetzigen Könige
lag das Schicksal der 254 angeklagten Polen, welche die Untersuchungs—
kommission aus der Masse der Verhafteten ausgesondert hatte, schwer auf
dem Herzen; er wollte ihnen die Wohltat einer öffentlichen und münd—
lichen Verhandlung gewähren, um das Verfahren abzukürzen und vor
aller Welt zu zeigen, daß in Preußen allein das Recht entscheide. Be—
ratungen über die Einführung des öffentlichen Strafverfahrens schwebten
in den beiden Justizministerien schon seit Jahren; aber erst der polnische
Aufruhr erzwang die längst als notwendig erkannte Reform. Auf Wunsch
des Monarchen ließ der zweite Justizminister Uhden, während Savigny
in seinen gelehrten Forschungen versunken war, einen Gesetzentwurf aus—
arbeiten, kraft dessen das öffentliche Verfahren zunächst bei den Berliner
Gerichten eingeführt werden sollte. Unzweifelhaft war es freilich nicht,
ob dies geplante Gesetz auf den Polenprozeß, der vor das Kammergericht
gehörte, alsbald angewendet werden konnte; er war ja schon vor Monaten
in Posen eingeleitet, und durfte man Gesetze mit rückwirkender Kraft er—
lassen? Der Prinz von Preußen, dem jede Verdunkelung des Rechts
entsetzlich war, sprach denn auch seine Bedenken lebhaft aus: „Dergleichen
übereilte Schritte, die sogar nach Willkür aussehen, haben in unseren
Tagen unberechenbaren Einfluß und sind aufs sorgfältigste zu vermeiden.“
In gleichem Sinne äußerte sich der alte Kammergerichts-Präsident Kleist.)
Der König aber ward in seinen großmütigen Absichten nicht beirrt und
unterzeichnete das Gesetz am 17. Juli 1846. Er wünschte die Entschei—
dung zu beschleunigen, und seine Minister sahen voraus, daß die pol—
nischen Verschwörer in der Achtung der Welt nur verlieren konnten, wenn
sie sich öffentlich verantworten mußten.)
Im März 1847 wurden die Ergebnisse der schwierigen Untersuchung
dem Staatsanwalt des Kammergerichts mitgeteilt, und am 2. August be-
gann im Saale des neuen Moabiter Zellengefängnisses der große Polen-
prozeß, die erste öffentliche Gerichtsverhandlung in Preußens alten Pro-
vinzen, ein Ereignis von „besonderer Bedeutung für uns, für Europa,
für die Welt“, wie der Verteidiger Deycks pathetisch sagte. Die Zuhörer
drängten sich in Massen schon zur frühen Morgenstunde herbei und er-
wiesen nach Kräften den Angeklagten ihre Huld, da jeder aufgeklärte Ber-
liner verpflichtet war, die polnischen Rebellen zu lieben. Der Hauptschul-
dige Mieroslawski hatte sich schon in der Untersuchungshaft durch den
klugen Polizeidirektor Duncker, den Schrecken der Berliner Spitzbuben,
umfassende Geständnisse entlocken lassen und mußte nun vor dem Gerichte
*) Prinz von Preußen an König Friedrich Wilhelm, 23. Mai; Kleists Promemoria,
April 1846.
**) Uhden, Denkschrift über den Polenprozeß, 8. Okt. 1847.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 36