94 Die militärische Lage Europas
Hilfsexpedition hinderlich und die Überfahrt von Dover nach der Schelde-
mündung vielen Fährlichkeiten ausgesetzt. Antwerpen war daher als Festung
und als Sctügpunkt einer Feldarmee anzusehen und konnte als solcher in
einer Feldschlacht voll zur Geltung kommen.
Rechnet man nun, daß die deutsche Armee, falls sie den Durchmarsch
durch Belgien erzwingen wollte, 12 Tage nach Beginn der Mobilmachung
den WBormarsch begann, so konnten ihre Spitzen zwei Tage später vor Lüttich
eintreffen. Wielleicht wagte der Angreifer nach Gereitstellung genügender
Kräfte donn einen aussichtslosen Sturm, vielleicht begnügte er sich, die
Festung zu umschließen und Reiterei nördlich über die Maas vorzutreiben,
während er mit der Hauptmacht die Abergänge über die Ourkhe zu er-
zwingen suchte, um südlich der Maas vorzustoßen. Was er auch tun mochte —
das Maastal, die große Schlagader des Landes, blieb ihm versperrt, seine
Kräfte wurden geteilt, der Nachschub erschwert, und wenn die französische
Armee planmäßig vorrückte, so traf ihn der Gegenstoß in ungünstiger Ver-
fassung. Lüttich konnte also nach dieser Berechnung den Feind nicht vor
dem 14. August erwarten, dann aber mochte nach Herankommen der fran-
zösischen Armee von einem Tag auf den anderen die große Feldschlacht be-
ginnen, in der Belgier und Franzosen Schulter an Schulter kämpften.
Zur entscheidenden Stunde konnte sogar das englische Korps noch rechtzeitig
eintreffen, da man sich auf eine Schlacht von mehreren Tagen, ja vielleichte
mehr als einer Woche gefaßt machen mußte und im Norfall auf der Linie
Givet— Namur—irlemont noch einmal schlagen konnte. Würden die
Alliierten wider Erwarten zum Rückzug auf Maubeuge gezwungen, so trat
Antwerpen seine Rolle an. Ein in Antwerpen stehendes belgisches Heer war in
der Lage, auf jede durch das Maas- und Sambretal westwärts strebende Armee
einen Flankendruck auszuüben und deren Verbindungen zu bedrohen, solange
es selbst Bewegungsfreiheit besaß. Die konnte ihm allerdings durch eine
abgezweigte Truppenmacht genommen werden, die den Dlatz beobachtend
umschloß, zwang aber immerbhin den Eindringling zu einer Teilung der
Kräfte, die einem weit von seiner Grundstellung operierenden Feind gefährlich,
unter AUmständen sogar zum Verhängnis werden mußte.
Lüttich, der östliche Zugang der belgischen Ebene, war als moderne
Festung von zwölf starken Forts umgeben. Diese lagen auf beiden Ufern
der Maas, besaßen einen Betonkern und Panzertürme mit kräftiger Be-
stückung und kreuzten ihr Feuer im Gelände. Die Festung beherrschte das
Maastal sowie alle wichtigen Verbindungen vom Osten nach dem Nord-
westen des Landes.
Auf eine Umwallung der Stadt hatte Brialmont verzichtet, die alte
Zitadelle und die ähnlich gestaltete Kartause aber als Festungswerke er-
holten. In General Léman besaß der Plaß einen tatträftigen Verteidiger,
der für rechtzeitige Heranziehung beweglicher Kräfte sorgte.