6 Aus der Vorgeschichte des Krieges
Der Wunsch, sich wieder in den Besitz der Rheingrenze zu setzen, und
die Besorgnis, von Deutschlands riesenhaft anwachsender Macht erdrückt
zu werden, hat die französische Republik in die Arme Nußlands geführt,
Rußland die französischen Goldquellen eröffnet und schließlich zu einem
innigen Einvernehmen mit England getrieben.
England und Deutschland
Der Abschluß des russisch-französischen Bündnisses, zu dem der Samen
schon während der Berliner Kongreßzeit gelegt wurde, das aber erst nach
der Auflösung des deutsch-russischen „Rückversicherungsvertrages“ in die
Reife schoß, hat die europäische Lage nicht aus dem Gleichgewicht gebracht.
Zwar war dieses Gleichgewicht nur ein schwebendes, es blieb indes bei
gleichmäßiger Mehrbelastung der entgegengesetzten Wagschalen vorläufig
ungestört. Die Gruppenbildung, die das Festland in den französisch-russischen
Iweibund und den Dreibund Deutschlands, Österreich-Ungarns und Italiens
schied, hat dieses labile Gleichgewicht nicht aufgehoben, sondern in seiner
eigentümlichen Schwebelage erhalten. Auch Verwicklungen, die sich außer-
balb der europäischen Landfeste im Kolonialgebiet oder auf den Weltmärkten
anspannen, brachten Europa vorerst nicht aus dieser Schwebe, doch glaubten
beide Bünde, sich durch gegenseitige militärische Bereitschaft und gesteigerte
Rüstungen fortgesetzt sichern zu müssen.
Solange England gegenüber den Festlandsmächten in einer unab-
bhängigen Stellung verharrte, die von dem konservativen Staatsmann
Salisbury als „splendid isolation“ bezeichnet wurde, war ein europäischer
Krieg schwer zu entfesseln, da Deutschland nicht auf einen „Prävenkivkrieg“
ausging (3). Aber der Druck, der auf Deutschland lastete, wuchs unaufhörlich.
Es drohte der Einkreisung zu erliegen, die durch seine geographische Qage
militärisch und wirtschaftlich erleichtert wurde. Diese Einengung hätte auf
die Länge die Entwicklung des Deutschen Reiches, das sich nach Bismarcks
Ausspruch in seinen europäischen Grenzen im wesentlichen gesättigt füblte,
unterbunden. Nur die ungeheure wirtschaftliche Lebenskraft, die aus dieser
spätgeborenen europäischen Großmacht hervorbrach, bewahrte Deutschland
davor, sich in der notwendigen militärischen Bereitschaft zu erschöpfen,
warf es aber dem angespanntesten Industrialismus in die Arme. Deursch-
land wuchs in einem Menschenalter zu einem großen Industrie- und Handels-
volk heran, das auf den Weltmärkten zu hohem Werdienst und Ansehen
kam, und nahm aus diesem Gewinn die Mittel, seine militärische Rüstung
zu vervollständigen und seine sozialen Einrichtungen auszubauen.
Deutschlands Weltwirtschaft eneband Deutschlands Weltpolitik. So-
lange das geschehen konnte, ohne Englands Eifersuche und Besorgnis zu