Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

214 Der Feldzug im Westen bis zum 15. September 1914 
schehen. Das Heer ist nicht dicht vor dem Feinde in feste Stellung gegangen, 
wo die Flankenbedrohung wirksam geblieben wäre, sondern über die Marne 
und — fast zu weit — über die Aisne zurückgeführt worden, also dorthin, 
wo am 30. August der Angriff seinen Gipfelpunkt erreicht hatte und die 
rückwärtigen Verbindungen noch einigermaßen spielten. Dadurch wurde der 
Feldzug im Westen auf eine neue Grundlage gestellt. 
Die franzssische Heeresleitung hat die Schlacht vielleicht mit geringerer 
Kraft und Eneschiedenheit gesucht als die deutsche, aber im Gegensag zu 
dieser an dem Willen festgehalten, sie im freien Felde herbeizuführen und 
durchzukämpfen. 
Dieser Entschluß wurde ihr leicht, als ihr ein Zufall die günstigere 
strategische Stellung verschaffte. Die strategische Iberlegenheit der Franzosen 
lag niche nur in der festverankerten Aufstellung zwischen Paris und Verdun 
und dem Abschwenken Klucks nach Südosten begründet, war nicht nur durch 
die ungesicherte Lage der deutschen Angriffsarmeen bestimmt, sondern ergab 
sich auch aus der Beherrschung der inneren Linie, die Joffre gestattete, 
während der Schlacht ganze Korps vom rechten auf den linken Flügel zu 
werfen. Dadurch erhielt er eine strategische Reserve zu den taktischen Re- 
serven, die dem Heere in Gestalt von Depottruppen und Landwehr zugeflossen 
waren. Diese Reserve stand nicht mehr wie zu Napoleons Zeiten hinter dem 
Feldherrn aufmarschiert, kam nicht mehr wie in Moltkes Tagen zur Wer- 
einigung auf dem Schlachtfelde auf vorher bestimmten Wegen angerülkt, 
um die Entscheidung zu bringen, sondern wurde irgendwo aus der Froné ge- 
zogen und mie Bahnen und Krafewagen in schwindelnder Eile herangeholt, 
um die wankende Schlachtordnung an der brüchigen Stelle wieder aufzu- 
richten. Hierin hat der französische Feldherr, dem kühne, geniale Ein. 
gebungen versagt geblieben sind, aber große Kühle und Sicherheit der Be. 
rechnung eigen war, sich als Meister gezeigk. In besserer Grundstellung und 
unter günstigeren Bedingungen — auch das Bewußtsein, daß es um Sein 
oder Nichesein ging, muß in diesem Sinne gewertet werden — hat noch 
kein Heer gefochten. Trohdem vermochte das französische Heer im taktischen 
Zusammenprall den Sieg nicht zu erringen, sondern nur beldenmülig aus- 
zuhalten und sich den Boden teuer abkaufen zu lassen, bis der Gegner sich 
zum Nückzug entschloß. 
Nur der Wille zum Sieg und der Glaube an den Sieg haben der 
französischen Armee an der Marne den Erfolg gesichert, den sie in der Schlacht 
selbst nicht zu erkämpfen vermochte. Ihr neugewecktes Kraftgefühl und der 
aufflammende kriegerische Geist ließen den Gegner erkennen, daß er alles 
auf einen Wurf stellte, wenn er fern von seinen Verbindungen, in ungünstiger 
Aufstellung und unter dem JLwang der Wechselwirkung des Zweifronten- 
krieges die Enkscheidung annahm, nachdem er den Gipfelpunkt seines strategi- 
schen Erfolges Überschricten, die Richcung nach der Seeküste aus dem Auge
	        
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