Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

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Belgien und die Großmächte 
Das Einvernehmen Englands und Frankreichs brachte auch eine Durch- 
sicht der Beziehungen Englands und Frankreichs zu Belgien mit sich. Die 
Generalstäbe Deutschlands, Englands und Frankreichs wußten, daß das 
Maasbecken seit Jahrhunderten das Schlachtefeld Europas gewesen war. 
Dieses Los war auch dem belgischen Staat aufgespart, der im Jahre 1830 
aus der alten Barrierenpolitik der Großmächte hervorgegangen und folge- 
richtig als neutralisierter Dufferstaat Dasein gewonnen hatte. 
Die Aufrichtung der Unabhängigkeit und Neutralität Belgiens, 
die nach fahrhundertelangen Kämpfen um den Besih Flanderns in den 
Jahren 1830 und 1839 von den Großmächten festgesetzt und verbrieft 
worden war, hatte vornehmlich den IZweck, das europkische Gleichgewicht 
aufrechtzuerhalten. Die Neutralität Belgiens ist also nicht um Belgiens 
willen, sondern im Interesse der Großmächte, vor allem Englands, aus- 
gesprochen worden. In dem Londoner Protokoll, das am 20. Dezember 1830 
aufgesetzt wurde, heißt es nach de Clercs Sammlung französischer Verträge 
(Band IV, Paris 1865) ausdrücklich: „Die Konferenz werde sich mit neuen 
Abmachungen beschäftigen, die am besten geeignet seien, die künftige Un- 
abhängigkeit Belgiens mit den Verträgen, den Interessen und der Sicherung 
der anderen Staaten und die Aufrechterhaltung des européäischen Gleich- 
gewichtes in Obereinstimmung zu bringen.“ 
Diese Neutralisierung lag zunächst und zumeist im Interesse Englands. 
Als Napoleon auf St. Helena saß, sprach er das hellsehende Wort: „Cest 
pour Anvers que je suis ici.“" Da England im neunzehnten Jahrhundert 
nicht mehr Festlandsmacht genug war, Seeflandern, Calais und Dünkirchen 
selbst besetzt zu halten, um sein Inselreich mit vorgeschobenen Bollwerken 
jenseits des Kanals zu umgeben, hat es in einer Neutralisierung Belgiens 
das Mittel gesehen, das flandrische Glacis gegenüber Frankreich zu sichern. 
Diese Sicherung war notwendig, solange Frankreich seine alteingewurzelte 
DPolitik aufrechterhielt und in einem Gegensatz zu England beharrte. Als 
Deutschlands Aufstieg die Verhältnisse änderte und England und Frankreich 
im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts eine enge Verbindung 
eingingen, war Englands Festlandsglacis Belgien nicht mehr gegen Süden, 
sondern gegen Osten gewendet. Frankreich hatte schon im Kriege von 
18700/71 aus der Neutralität Belgiens Nutzen gezogen und sich darein 
mit Preußen--Deutschland geteilt. England hat damals die Achtung der 
belgischen Neutralität im eigenen Interesse gefordert und von beiden krieg- 
fübrenden Parteien zugesichert erhalten. Daß beide dazu ohne weiteres 
willig waren, lag in den strategischen Verhältnissen begründet, die sich einer- 
seits in der geringen Bereitschaft Frankreichs zum Bewegungskrieg und in 
seinem Aufmarsch im elsaß.lothringischen Borgelände und andererseics in
	        
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