Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

16 Aus der Vorgeschichte des Krieges 
der Zusammenfassung der deutschen Streitkräfte zwischen der Saar und 
dem Oberrhein ausdrückten. Damals erfüllte Belgien seine Rolle zum Vor- 
teil der drei benachbarten Unterzeichner seiner Neutralität zum lectenmal. 
Nach der Aufrichtung des Deutschen Reiches und dessen zunehmender 
Industrialisierung, die sich besonders an der ausgesetzten Rheinflanke zwischen 
Nuhr und Wupper geltend machte, war die Bedeutung Belgiens als Puffer- 
staat zwar nicht gemindert, die Aufrechterhaltung seiner Neutralität 
aber beträchtlich erschwert worden. Solange England, Frankreich und Deutsch- 
land drei Mächte darstellten, die ihre Interessen im Sereitfalle gegenseitig 
abwogen und nicht zwei gegen eine standen, trat dies weniger hervor, im 
Augenblick aber, da Frankreich und England ihre Interessen verbanden, 
wuchs der Druck auf Belgiens Nord- und Westflanke so stark, daß Deutsch- 
land ihn durch den Pufferstaat hindurch spürte. Traf das Deutsche Reich 
daraufbin Gegenmaßnahmen, so geriet Belgien unter doppelseitige Pressung, 
die im Falle eines Konflikts der großen Mächtegruppen zur tödlichen Gefahr 
werden konmee. 
Belgien war erst seit achtzig Jahren zu einem selbständigen Herrschafts. 
gebiet geworden und hatte in dieser kurzen Spanne Zeit ein Weltwirtschafts. 
volk erzeugt. Das Land hatte sich indes mit seiner reichen wirtschaftlichen 
Enewicklung nicht beschieden. Das ist ihm zum Verhängnis geworden und 
hat es aus seiner neutralen Stellung gedrängt, die in der Staatsauffassung 
ohnehin schwach verankert war, da wohl der Staat, nicht aber der Staatsbürger 
sich daran gebunden hielt. Als Belgien aus den Händen König Leopolds 
den Kongostaat im Umfang von 2252 780 Quadratkilometern mit etwa 
19 Millionen Einwohnern erwarb, ging es zur Machtpolieik über. Es 
gab die bescheidene stumme Nolle auf und wurde zur handelnden Derson 
auf der Weltbühne, begab sich also in einen inneren Widerspruch mit der 
ewigen Neutralität, die einen Verzicht auf Machtzuwachs in sich schließe 
und von Belgien selbst um so eifersüchtiger gehütet werden mußte, je brüchiger 
das europäische Gleichgewicht wurde. Die Abernahme des Kongostaates aus 
der Leopoldischen Erbschaft machte Belgien dann dem modernen Imperialis= 
mus, der sich als Streben nach überseeischer Geltung bezeichnen läßt, vollends 
zinspflichtig. Fortan gingen die Interessen Belgiens mit denen Englands und 
Frankreichs eng zusammen, wollte Welgien sich nicht in Afrika einem un- 
erträglichen Flankendruck aussehen. Es hat diesen genug zu spüren bekommen, 
bis sein Einschwenken auf der ganzen Oinie die britischen Anklagen über 
belgische Eingeborenenpolitik am Kongo verstummen ließ. Zwei geschichtliche 
Daten kennzeichnen diese Entwicklung. Am 9. Juni 1904 hat Grey im Unter- 
haus die „Kongogreuel“ gebrandmarkt, am 29. Mai 1913 setzte er die An- 
erkennung der Amnexion des Kongostaates durch Belgien im Parlament 
durch und lehnte die Wiedererörterung der Eingeborenenpolitik ab. Belgien 
hatte die politische Unterstützung der Westmächte gefunden, nachdem König
	        
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