Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

20 Aus der Vorgeschichte des Krieges 
In Mazedonien kreuzten sich die Interessen sämtlicher Balkanmächte 
in verhängnisvoller Weise. Die mazedonischen Wirren bildeten eine ständige 
Gefahr und Verlockung für die Anrainer und ihre Hincermänner, nicht 
zulehzt bedrohten sie in ihren Wirkungen den Bestand der Türkei, deren Auf- 
lösung nahegerückt schien, wenn die Lawine ins Rollen kam. 
Als England sich Rußland immer mehr näherte und die Balkanvölker 
die Abstumpfung des englisch russischen Gegensatzes gewahr wurden, wuchs 
die Gefahr gewaltsamer Vorgänge auf der Balkanhalbinsel. Die englisch- 
russische Annäherung gedieh am 19. Juli 1908 zu einer Zusammenkunfe 
König Eduards mit dem Jaren, die auf der Reede von Reval stattfand 
und einen Gedankenaustausch über die Balkaninteressen der beiden Mächte 
zutage förderte. Offenbar hatte England sogar sein Verhälenis zur Türkei 
einer Durchsicht unterzogen, um seine Einkreisungspolitik zum Siege zu 
fübren. Die Mißherrschaft des Sultans Abd ul Hamid erleichterte Eng- 
land diese Schwenkung und legte Rußland und den christlichen Balkanvölkern 
eine neue Aufteilung des ottomanischen Reiches nahe. 
Da erhoben sich im Sommer 1908 die liberalisierenden Jungtürken 
und stürzten das absolutistische Regiment des Sultans Abd ul Hamid. Eine 
neue Orientkrisis zog herauf. Unter dem Zwange der Umstände entschloß sich 
Osterreich-Ungarn, zu handeln, ehe seine Stellung am Balkan von anderer 
Seite zur Erörterung gestellt wurde. Es verkündete die Einverleibung der 
ihm durch den Berliner Kongreß zur Besehung überwiesenen Landschaften 
Bosnien und Herzegowina. Wien stellte also einer von innen heraus wirkenden 
Entwicklung eine äußerliche Tatsache entgegen, ohne sich mit den Signatar. 
mächten des Berliner Kongresses ins Einvernehmen zu sehen und ohne den 
zwischen dem Kaiser und König und dem türkischen Sulean abgeschlossenen 
Vertrag auf rechtlichem Wege zu beseitigen. Es fühlte sich in einer Zwangs. 
lage und handelte danach. Dieser Schritt brachte nicht nur den Balkan, 
sondern auch die Großmächte in Bewegung. War die von dem Minister 
Aehrenthal vorgenommene Staatshandlung bestimmt, Klarheit Über den 
Amfang und die ZJiele der großserbischen Propaganda zu erlangen und festzu- 
stellen, in welchem Maße sich Rußland dafür einsetzen würde, so konnte 
Osterreich diesen Zweck als vollkommen erreicht bezeichnen. Laut klang Serbiens 
Einspruch, deutlich klirrte Rußlands Schwert. Bald wurde offenbar, wie 
stark Serbien sich bereits fühlte und wie greifbar deutlich Rußland ihm die 
Hand führte. 
Der europäische Krieg, der um Marokko und die in diesem Handel 
verborgen liegenden Probleme noch nicht entbrannt war, drohte sich jetze 
an der Orientfrage zu entzünden. Fürst Ferdinand von Bulgarien ersah 
die Gunst der Seunde und schüttelte die Souveränität des Sultans ab, der 
Berliner Vertrag flog in alle Winde. Auch in diesem Falle lag der Grund 
der Erregung tiefer, handelte es sich um die allgemeine politische Entwicklung,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.