Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Das BValkanproblem 21 
nicht um den Vorfall an sich. Die europäische Gegenwirkung auf den Schritt 
Oslerreich-Ungarns war so stark, weil durch die endgültige Einverleibung 
der beiden Landschaften in die Donaumonarchie die Erwartungen und 
Möglichkeiten des großserbischen Zukunftsstaates gedämpft wurden, Rußland 
sich in seiner politischen Interessensphäre verletzt, in seinen Hoffnungen und 
Enewürfen bedroht fühlte und das alternde Osterreich-Ungarn plöglich als 
selbständig handelnde Macht in Erscheinung trat und die beweglichen 
Balkangrenzen von sich aus fest umsteckte. 
Rußlands Zustimmung zu der Einverleibung war angeblich von dem 
Minister des Außern Iswolski unter bestimmten Bedingungen in Aussicht 
gestellt worden, von denen die Forderung, daß den russischen Kriegsschiffen 
die Ourchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen geöffnet werde, 
am lantesken sprach. Es sind aber Zweifel erlaubt, ob das Petersburger 
Kabinett an die Durchsegung dieser Forderung geglaubt hat, die ja nicht 
durch eine einseitige Absprache Iswolskis mit Aehrenthal geregelt werden 
konnte. Tatsächlich hat Rußland den Schritt der Donaumenarchie als 
Bedrohung der von dem Zaren beanspruchten Beschützerrolle auf dem 
Balkan angesehen und danach gehandelt. 
Englands Einspruch gegen die Einverleibung Bosniens und der Herzego- 
wina verschärfte die Lage. Dazu bot die diplomatische Schürzung des 
Knotens reichliche Gelegenheit. Das britische Kabinett wies darauf hin, 
daß die staatsrechtlichen Beziehungen, welche die von Osterreich-Ungarn 
beseczten und verwalteten Länder mit der Donaumonarchie verknüpften, 
durch die Berliner Kongreßakte festgestellt seien und daß eine Anderung 
der Genehmigung der Signatarmächte bedürfe. Dieser Anschauung schloß 
sich Iswolski alsbald rasch gefaßt an. Obwohl sich Frankreich zurückhielt, 
da es durch Sorgen und Hoffnungen im eigenen Hause abgelenkt war und 
den Freunden und WVerbündeten die Führung der Angelegenheit getrost 
Überlassen konnte, drohte eine allgemeine europäische Entladung, zum 
mindesten aber eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen ÖOsterreich- 
Ungarn auf der einen und Serbien und Rußland auf der anderen Seite. 
Die Wiener Diplomatie versuchte die briüchige Grundlage ihrer Politik zu 
verstärken, indem sie sich gegenüber dem Einspruch Englands nicht grund- 
sätzlich ablehnend verhielt. Wien machte jedoch die von England und Ruß- 
land geforderte Gesamtentscheidung Europas von Einzelverständigungen 
mit den Großmächten abhängig. Dieser Schach zug wurde durch das Dber. 
einkommen ergänzt, das am 18. Januar 1909 zwischen dem Ballplatz und 
der Hohen Dforte geschlossen wurde. Oanach verzichtete Osterreich-Angarn 
auf sein Besetzungsrecht im Sandschak Nowibasar und erstattete diese 
Landschaft dem Sultan zurück, während die Psorte die Einverleibung 
Bosniens und der Herzegowina in die Donaumonarchie anerkannte. Oster- 
reich gab damit die Türe, die nach Mazedonien und Saloniki führte, preis.
	        
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