24 Aus der WVorgeschichte des Krieges
mehr zur Unterstützung verpflichtet als je zuvor, und im Juli 1914 haben
die Serben ein kräftiges, gerüstetes, angriffslustiges Rußland an dieses
Schuldverhältnis erinnert, diesmal nicht umsonst.
Insofern macht das Jahr 1909 Epoche in der Geschichte Europas.
Es ist das Jahr, in dem die orientalische Frage in eine neue Krise hineinwuchs.
Rußland hatte darauf verzichten müssen, Osterreichs Balkanpolitik zu durch-
kreuzen, da es von Frankreich in abmahnendem Sinne beraten und von
England niche genug unterstühßzt wurde. England hat sein eigenes Interesse
böher gestellt als das der „Entente“ und eine internationale Lösung des
Streitfalls nur so weit gesucht, als durch ihn die englische Unterschrift unter
dem WVerliner Vertrag und das orientalische Interesse Englands berührt
wurde. Bis zum Kriege um Bosniens willen reichte dieses nicht. Deutlich
geworden war indes, daß Rußland einen österreichisch-serbischen Streitfall
auch als einen russischösterreichischen betrachtete, und darin liegt der Schlülssel
zur späteren Enewicklung der orientalischen Krise. Kaum waren die Tritte
der Gesandten der europäischen Großmächte im Belgrader Konak verhallt,
so nucte England die Erfahrungen und die Gelegenheit, die aus dem bosni-
schen Handel erwachsen waren, und zog die Berbindung mit Rußland enger,
und Rußland, das sich an Deutschland wundgestoßen hatte, war nun bereit,
daraus die Folgerungen zu ziehen und sich vollends mit England zu be-
freunden. ber dem Bosporus wurde es zusehends heller, russische Augen
saben auf der Kuppel der Hagia Sophia schon das orthodoxe Kreuz
schimmern
Oie europäischen Bündnisse
Dußerlich betrachtet hatte das Jahr 1909 Europa eine Stillung der
drohenden Zerwürfnisse und eine gewisse Bürgschaft für die Wiederkehr
ruhigerer Zeiten gebracht, obwohl zwischen Rußland und Osterreich eine
vollständige Erkaltung der Beziehungen eingetreten war. Selbst das Balkan-
problem schien zur Ruhe zu kommen, als zwischen der Türkei und Bulgarien
eine #bereinkunft erzielt wurde, die die schwebenden Streicfragen beglich
und die Annahme des Königstitels durch Ferdinand von Koburg bestätigte.
Die Gemeinsamkeit der Interessen des Dreiverbandes hatte sich geringer
erwiesen als die Gemeinsamkeit der Dreibundinteressen. Aber bald zeigte
sich, daß diese Becrachtung der Dinge an der Oberfläche haftete. Zwar
war der erste Teil des neuen Erfahrungssatzes richtig, die Gemeinsamkeit
der Dreiverbandsinteressen war nicht stark genug hervorgetreten, aber eine
Minderung der Entente war damit keineswegs verbunden. Es war lediglich
festgestellt worden, daß die Verständigung Englands, Nußlands und Frank.
reichs noch nicht den Grad der Festigkeit erreicht hatte, die drei Mächte „pari
passu“ marschieren und wirken zu lassen. Der Dreibund aber hatte als