Der ZJerfall des europcischen Konzerts 33
blieb aber überzeugt, daß es die Geschicke seiner einstigen Schutzbefohlenen,
die es zu diesem Kriege tüchtig gemacht hatte, nach wie vor insgeheim werde
lenken können. Der Balkanbund lag als „rocher de bronze“ in Osterreichs
Bahn; mochte er nun zunächst die Türkei zertrümmern, später konnte Ruß.
lands Hebel ihn auf Osterreich-Ungarn zurückwuchten. An die Hagia Sophia
wagte niemand zu rühren, das wußten die Erben Deters des Großen, die
jeht Rußlands Stunde gekommen glaubten und den Halbmond schon auf
immer in den Gewässern des Marmarameeres versinken sahen.
Es war das Ende „Europas“. Der Sterbekampf des alten politischen
Begriffs Europa ging neben den Waffenentscheidungen auf dem Balkan her
und währte, bis der Bund der siegreichen Balkanvölker über der Teilung
der Siegesbeute plößlich zerfiel und sie die Waffen gegeneinander kehrten.
Das Schiff, das Rußland schwer beladen mit Hoffnungen und Entwürfen
ausgesandt hatte, scheiterte im Hafen. Im grimmen Kampf erlag Bulgarien
der Lbermacht Serbiens und Griechenlands und der ODazwischenkunft
Rumäniens, das nun aus der Wersenkung tauchte, um seinen Anteil an der
allgemeinen Grenzverschiebung wahrzunehmen. Der geheime Teilungs-
vertrag, den die Bundesgenossen vor Beginn des Krieges geschlossen, wurde
zerrissen, Bulgarien um den Preis verkürzt und Mazedonien aufgeteilt. Ser-
bien trug den Löwenanteil heim und herrschte nun von Belgrad bis Monastir
und Gjewgjeli. Mit Mühe rettete Bulgarien Strumigza. Griechenland
erhielt Saloniki und Cavalla und die Mesta als Grenze gegen Bulgarien.
JRumönien brachte die bulgarische Dobrudscha heim und erwarb dadurch
wertvolles Kornland und eine strategische Flankenstellung an seiner Süd-
front, die zu einem Brückenkopf in der Richtung Sofia und Adrianopel
ausgebaut werden konnte. Aber die Adriaträume Serbiens, Montenegros
und Griechenlands verwirklichten sich nicht. Osterreich-Ungarn und Italien —
diesmal wieder von der Gemeinsamkeit ihrer Interessen trotz der Neben-
buhlerschaft um die Adria zusammengeführt — scheuchten sie mit drohendem
Schwert.
Als der Friede von Bukarest geschlossen wurde, der Bulgarien um die
Früchte des thrazischen Geldzuges brachte und dafür Serbien, Griechenland,
Montenegro und Rumänien mit um so größerem Gewinn ausstattete, war
der Einfluß der Großmächte auf die Gestaltung der Dinge so verringert,
daß man sich mit dem Status quo abfand, nachdem man zu Beginn der
Kriegswirren den Status quo ante als maßgebend verkündet hatte.
Da schienen noch einmal Werständigungsversuche zwischen Deutsch-
land und Rußland und zwischen Deutschland und England die drohende
Katastrophe zu beschwören. Rußland hatte Osterreich-Ungarn nichts ver-
ziehen, am wenigsten das Auftreten der Donaumonarchie gegen Serbien
und Serbiens Ansprüche auf Albanien und einen Hafen an der Adria. Am
20. Dezember 1912 fiel in der Duma das böse Wort Purischkewitschs,
Stegenannt Geschichte des Kriegesr. I. 3