Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Der Zerfall des europäischen Konzerts 35 
Ein Angriff gegen Deutschland ist nicht Gegenstand und wird niemals 
Gegenstand der Verträge, Einverständnisse oder Abmachungen sein, die 
England bis zur Gegenwart eingegangen ist, und England wird nie an etwas 
teilnehmen, das einen ähnlichen Zweck verfolgt.“ 
Graf Metternich fand diese Formel nicht entsprechend und schlug vor 
zu sagen: „England wird also wenigstens eine wohlwollende Neutralität 
beobachten, wenn Deutschland ein Krieg aufgedrängt wird, oder: England 
wird also selbstverständlich neutral bleiben, wenn Deutschland ein Krieg 
aufgedrängt wird.“ Er fügte bei, daß England nur gebunden sein solle, 
wenn seinen Wünschen betreffend das Flotktenprogramm entsprochen werde. 
England lehnte den Zusaß ab. Darauf verzichtete Deutschland auf ein 
Ergebnis und betrachtete die Berhandlungen als gescheitert (13). 
Die Versuche, zu einer Werständigungsformel zu gelangen, waren 
zum Scheitern verdammt, weil die Feststellung, ob es sich um einen Angriffs. 
krieg oder um einen Verteidigungskrieg handelte, im Augenblick des ge- 
schichtlichen Geschehens sehr schwierig war und je nach der subjektiven Auf. 
fassung zu einem entgegengesetzten Ergebnis führen mußte. Weder Deutsch- 
land noch England konnten in dieser Hinsicht eine Bürgschaft übernehmen. 
Selbst die Erklärung Englands, daß es „keinen unprovozierten Angriff 
gegen Deutschland oder Osterreich-Ungarn unternehmen oder mitmachen 
werde"“, war einer sicheren — wenn auch noch so schmalen — AUnterlage bar. 
Es war ein Bemiühen um Worte, tatsächlich besaß England die volle 
Handlungsfreiheit nicht mehr, weil seine politischen Freundschaften sich 
mehr und mehr zu Bündnissen verdichteten und die Folgen der „Ententen“ 
bereits neue Machtverhältnisse hatten entstehen lassen. 
Die Rücksichten auf die Entente cordiale verboten England, sich 
in eine Bindung einzulassen, die dieses ältere Abkommen gefährdet hätte. 
Hatte König Eduard seine Handlungsfreiheit noch in gewissem Amfange 
bewahrt, so verlor Sir Edward Grey, auf sich selbst gestellt, rasch die Herr- 
schaft über die verwickelten und im Fluß befindlichen Verhälenisse. Auf 
der Gegenseite fühlte sich Deutschland außerstande, die Entwicklung der 
lezten zehn Jahre rückgängig zu machen. Es war zu spät, eine Brücke 
Über die Nordsee zu schlagen; die Entwicklung, die ihren stärksten Antrieb 
von dem unaufhaltsamen Wachstum der deutschen Handelstätigkeit emp. 
fangen hatte, ging ihren Gang. Nur unbedingte, von allen Wer- 
lockungen freie und jeder Rücksichtnahme entbundene Friedensliebe konnte 
den Bruch der leichtgespannten Verbindungsfäden noch verhindern. 
Auf englischer Seite ist man mit gesteigerker Besorgnis aus den Ver- 
bandlungen geschieden, denn eine Bindung der deutschen Flottenstärke, 
dieser größee aller unblutigen Siege, war nicht erreicht worden, da man die 
unbedingte Neutralität als Gegenleistung nicht hatte versprechen können. 
Sir Edward Grey zog in dieser Lage alsbald die Folgerungen nach der
	        
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