36 Aus der Vorgeschichte des Krieges
anderen Seite und band das Seil kürzer, das England mit Frankreich und
Rußland verknünfte.
Während man in Berlin dauernd an der Hoffnung festhielt, daß auch
nach Fallenlassen der Verhandlungen die Beziehungen zu England freund-
schafeliche und verkrauensvolle bleiben und in der Zukunft wieder enger
gestaltet werden könnten — diese Hoffnung ist von Sir Edward Grey nach
dem Zeugnis Metternichs bei der lehten Unterredung ausgesprochen worden —,
erfolgten in London, Paris und Petersburg entscheidende Entschließungen.
Am . September keilte der Marineminister Delcassé in der französischen
Kammer mit, daß Frankreich sein drittes Kampfgeschwader von Grest
nach Toulon verlege, so daß nun die ganze französische Flotke im Mittelmeer
versammelt war. Die Sicherheit der französischen Nordklüste wurde von
England verbürgt. Damit begab sich Frankreich unter Englands Seehut
und schügte seine Nordküste, indem es sie von Dünkirchen bis St. Nazaire der
britischen Aufsiche unterstellte. England erwarb dadurch eine überaus wert.
volle Stellung auf dem Festland, entäußerte sich aber eines Teiles seiner
Bewegungsfreiheit, denn es besaß nun nicht nur stärkeren Einfluß auf Frank.
reichs Geschick, sondern auch eine größere Verantwortung in einem Kriegs.
fall. Es konmte sich fürder einer Teilnahme an einem deutsch-französischen
Zusammenstoß kaum noch entziehen, da seine Neutralität genügt hätte,
Frankreichs atlantcische Küste der deutschen Flotte und deutschen Landungen
preiszugeben (14).
Wie konnte Frankreich auf eine solche Kräfteverteilung eingehen? Die
Antwort liegt in seiner Erinnerungspolitik. Solange Frankreich in Deutsch.
land den Erbfeind sah und seine Politik dieser Auffassung dienstbar machte,
hacte es ein brennendes Interesse daran, England so zu binden, daß die
Entente cordiale das Gepräge eines Schug- und Truchbündnisses erhielt.
Raymond Doincaré war als Vertreter der mehr rechts gerichteten, also
dem Erinnerungskultus und der imperialistischen Politik zugewandten
Parkeien Präsident der Republik geworden. Er zog mit Delcasses Unter.
stützung das russisch-französische Bündnis enger und versicherte sich der
unveränderken Froneskellung Rußlands für die drohend verhangene Zukunft,
handelte also im Geiste dieser Holitik durchaus folgerichtig. Diese Policik
mußte in einen Krieg mit Deutschland münden, wenn die Zeit erfüllt war,
auch ohne daß Frankreich zum Angreifer wurde.
Als der Balkankrieg entbrannte und den europäischen Himmel mit
blutigem Flammenschein übergoß, tat Sir Edward Grey den letzten Schritt,
der ibm zu tkun noch übrigblieb, und stellte durch einen Briefwechsel mit
dem französischen Botschafter Daul Cambon den Bündnisfall der Entente
cordiale ausbrücklich fest. Deutlich ist in diesem Briefwechsel ausgesprochen,
daß die englischen und französischen Fachleute von Heer und Flotte schon
lange alle Möglichkeiten erwogen und einen gemeinsamen Feldzugsplan