Iwischenspiel 43
dem Ausbruch des europäischen Krieges noch Begriff und Grundsagß des
europäischen Gleichgewichts hervorgeholt wurden, nicht zuletzt in der Nede,
die der russische Minister Sasonow am 3. Mai 1914 in der Duma hiele
und worin er sagte: „Der Dreiverband ist frei von jeder Angriffslust;
er will bloß das europäische Gleichgewicht erhalten und ist jederzeit bereit,
mit dem ODreibund zusammenzuwirken.“ ODas war kurz, nachdem Iswolseki
in Paris auf eine engere Berbindung Englands und Rußlands bingewirkt
und englische und russische Fachleute die Aussichten und Aufgaben eines
englisch-russischen Flottenabkommens erörtert hatten. War das überhaupt
noch ein „Gleichgewicht“?
Oas europische Gleichgewicht, das früher einmal eine Schwebelage
der Festlandsmächte, dann eine Schwebelage mit dem gefestigten Drei-
verband in der einen, dem gelockerten Dreibund in der anderen Wagschale
darstellte, war seiner Grundsäßlichkeit durch die Preisgabe einer Ruhelage
von selbst entkleidet worden und hatte durch den Eintrite Englands in eine
einseitig zugespigte Bündnispolitik auch jede praktische Bedeutung für die
Erhaltung des europäischen Friedens verloren. Der alte, durch die Tradition
fast geheiligte Grundsag ist auch für die lleinen Bölker entwerlet worden,
nachdem das Inselreich sich wieder zur Koalitionspolitik bekannt hakte.
Insbesondere war für England damite die Möglichkeit, Fürsprecher und
Verteidiger der Unabhängigkeit kleiner Bölker auf dem Festland zu sein,
dabingefallen. Nur ein selbstherrliches, außerhalb der Festlandsgruppen
stehendes Großbritannien konnte dieses Amt zu eigenem Worteil, aber auch
zum Nugten der lleinen, als Ergänzungs- und Ausgleichungsgewichte
wirkenden und notwendigen Bölker in voller Freiheit ausüben, ein durch
Verträge verpflichtetes, mit seinen Waffen und seiner Wirtschaft einseitig
gebundenes England riß die Kleinstaaten in die eigene Gruppierung hinein.
England war in die Ententepolitil eingetreten, weil es glaubte, nicht
mehr von sich aus den Ausschlag in Europa geben zu können, und fürchtete,
daß Deutschland das DObergewicht erhalten, dieses alsbald gegen England
ausspielen und so die Welthandelsberrschaft an sich reißen werde (17). In
dem Augenblick, da die Ententepolitik sich seiner so stark bemächtigte, wie
dies nach Eduards Tode geschah, verlor England in gewissem Maße die
Gewalt über die Entwicklung der Dinge. Ob das englische Parlament sich
dessen bewußt war, skeht dahin. WVielleicht hat sich Sir Edward Grey selbst
über die Bindungen gethuscht, in die ihn die Entwicklung verstrickte. Daß
die englische Staatsleitung noch von Fall zu Fall eine Verständigung suchte,
geht aus den Verhandlungen über die Abgrenzung der deutschen und eng-
lischen Einflußsphären in Kleinasien hervor, die im Vorsommer 1914 zu
einem Ergebnis führten, an dem auch Frankreich einen Anteil hatte. Am
15. Juni wurde bekannt, daß Sir Edward Grey und Fürst Lichnows#t#e,
der deutsche Botschafter in London, ein Abkommen unterzeichnet hätten,