Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

46 Aus der Vorgeschichte des Krieges 
dann konnte England den drohenden europäischen Krieg vielleicht noch 
bannen, wenn es sich der Handlungsfreiheit bediente, die es sich nach wieder- 
bolten Erklärungen der Regierung im Parlament bewahrt hatee. Und 
wenn auch in Wahrheit diese Handlungsfreiheit außerordentlich geschwächt 
worden war, seit Sir Edward Grey mit Cambon die Briefe vom 22. und 
23. November 1912 gewechselt hatte, so hätte eine deutliche Absage an 
Sasonow am Ende doch noch Erfolg gehabt, jedenfalls aber nicht nur das 
russische Kabinett in seinen Eneschlüssen gehemmt, sondern auch den Friedens- 
willen Frankreichs gestärkt. 
Das französische Bolk war unzweifelhaft von friedlichen Gefühlen 
beseelt und lieh nur stolzen Träumen Nahrung, wenn es in Paris militärische 
Schaufspiele pflegte und zu den Vogesen hinüberblickte, seine führenden Staats- 
männer freilich, der Präsident der Republik, RNaymond Poincaré und der 
Minister des Tußern, Theophil Delcassé, stellten die Erfüllung dieser Träume 
über die Bewahrung des Friedens. Sie hofften, das NRad der Geschichte 
noch einmal rückwärts zu drehen, wenn die AUmstände günstig waren. Ihnen 
schien die große Stunde gekommen, der sich Frankreich nicht entziehen konnte. 
Es trieb nicht zum Kriege, versäumte aber, seinen Friedenswillen durch 
entschiedene diplomatische Tätigkeit zu bekräftigen und ließ das Schicksal, 
den Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch und die russische Kriegsparkei walten. 
Als am 31. Juli Jean Jaures von Meuchlerhand erschossen wurde, floh der 
Friedensengel von seiner Leiche aus Paris. 
Weder England noch Frankreich waren von der Entwicklung und den 
Ereignissen genügend unabhängig, um das kostbare Gut des europäischen 
Friedens höher einzuschähen als die Möglichkeit — in ihren Augen Ge- 
wißheit —, Deutschlands politische und wirtschaftliche Weltgeltung im Bunde 
mit Rußland zu vernichten. Die Gunst der Umstände lockte — vielleicht 
sogar zu unblutigem Siege, denn Deutschland schien nicht in der Lage, 
Widerstand zu leisten, wenn es mit Osterreich-Ungarn allein blieb. Man 
wußte über Italien Bescheid. 
Es lag wohl auch nicht in der Absicht Sir Edward Greys, dem Kriege 
auszuweichen, der England das Arbitrium mundi und die Borherrschaft 
auf den Weltmärkten auch gegenüber dem jüngsten europäischen Rivalen 
zu verbürgen schien. Der leitende englische Minister glaubte um so weniger 
Grund zu haben, einen Krieg zu scheuen, je mehr es ihm gelang, Deutsch- 
land diplomatisch ins Schach zu manörrieren und selbst als Berteidiger 
des Friedens und der Freibeit der Bölker zu erscheinen. 
Wie man aber auch den Begriff des Angriffskrieges wenden mag — 
die Teilnahme Englands am europäischen Kriege war durch seine Entente- 
politik längst vorherbestimmt; der europäische Krieg steht am Ende einer 
Entwicklung, die 1870 eingesetzt hat, durch den englisch-deutschen Gegensatz 
gefördert, durch die orientalische Krisis und Osterreich-Ungarns Diplomatie
	        
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