Im Irrgarten der Verhandlungen 49
Bundesgenosse, sondern Serbiens Schugtherr, stand also zu dem Galkan-
königreich in einem Verhältnis, das sowohl russischen Machtansprüchen
am Balkan Genüge verschaffte, als auch moralische Zusammenhänge her-
stellte. Ließ Rußland Serbien auch diesmal im Stich, so war seine ganze
Orientpolitik, die auf die Aufrichtung der russischen Vorherrschaft am
Balkan und eine dadurch bedingte Schwächung Osterreich-Ungarns hinaus-
lief, um eine Entwicklungsepoche zurückgeworfen, seine Bestrebung, die
WBalkanvölker zur Frontstellung gegen Osterreich-Ungarn zu bewegen,
gelähmt und das Machtansehen der Donaumonarchie neu begründet. Des.
halb glaubte Rußland sich auch mit einer Erllärung, daß Osterreich nur
einen Straffeldzug unternehme, falls Serbien nicht „ja“ sage, nicht ab.
finden zu können. Aus diesen Gründen schob Sasonow sogar die Einzel-
becrachtung der österreichischen Note beiseite und überhörte die von Deutsch-
land unterstrichenen Erklärungen Wiens, daß keine Beeinträchtigung der
serbischen Staatshoheit oder Kürzung serbischen Staatsgebietes beabsichtigt
sei. Die russische Regierung war von Anfang an willens, die Sache als
russische Angelegenheit zu betrachten, machte sie aber so zur eur opäischen
Angelegenbeit, da die Ententepolitik sich mit der russischen deckte. Diese
Anschauung wurde von der französischen Regierung unterstüt, von der
englischen nicht bekämpft — Serbien fühlte sich vollkommen gedeckt (26).
Als Graf Berchtold den Eindruck erhalten hatte, daß die an Serbien
gerichtete Note einer Besprechung in den europäischen Kabinetten doch
nicht entzogen bleiben konnte, ließ er London und Detersburg dahin auf.
Ulären, daß man nicht beabsichtige, Serbien zu verkürzen, und daß der getane
Schritt nicht als formelles Altimacum, sondern als eine befristete „Demarche“
zu betrachten sei (27). Zu spät, die Kugel war im Rollen. Worschläge und
Gegenvorschläge jagten und kreuzten sich und verwirrten die Sachlage mehr
als sie sie klärten. Die Technik der diplomatischen Unterhandlungen von
Kabinett zu Kabinett litt ebensosehr Schiffbruch wie die Friedenspolitik
selbst. Rußland begann schon am 26. Juli militärische Vorkehrungen zu
treffen, um seiner Auffassung Nachdruck zu leihen. Damit war der erste
bewußte Schrite zum europäischen Kriege getan (28). Er mußte von
Deutschland mit der gleichen Maßregel beantwortet werden, denn er bedrohte
nicht nur Osterreich-Ungarn, sondern auch Deutschland selbst. Bundespflicht
und Selbsterhaltungstrieb riefen Deutschland unter die Waffen (29).
Ebe die deutsche Regierung diesen Schritt tat, ließ sie unter eigener
Veranewortung in Petersburg erllären, daß Osterreich-Angarn niche daran
denke, Serbien zu erobern (30), und ließ in Paris mitteilen, daß sich Deutsch=
land mit Frankreich in dem heißen Wunsch einig fühle, den Frieden zu
erhalten. Die im gleichen Atemzug ausgesprochene Hoffnung Deutschlands,
daß Frankreich seinen Einfluß in Petersburg in beschwichtigendem Sinne
geltend machen möge, hat der stellvertretende Minister des Außern, Bien-
Stegemanns Geschichee des Krleges. I. 4