Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

62 Aus der Vorgeschichte des Krieges 
mittlung der britischen Regierung zum Schutze der Neutralität Belgiens 
amurufen (59). Er erinnerte in diesem Telegramm an die freundschaftliche 
Haltung, bie England im Jahre 1870 gegenüber Belgien eingenommen hatte. 
Die Haltung, die England damals als neutraler und neutral bleibender 
Staat eingehaltlen hatle, war indes eine grundsätzlich verschiedene von der, 
die das durch die Entente cordiale und den bereits zugestandenen Bündnis- 
fall gebundene England im Jahre 1914 einnahm (60). Gladstone hatte im 
Jahre 1870 als unbeteiligter und als redlicher Bürge volle Handlungsfreiheit 
besessen und diese genützt, indem er mit beiden Kriegführenden, dem Nord. 
deutschen Bund und Frankreich, Verträge abschloß, durch welche sich England 
die Hilfe des einen im Falle einer Berlethung der belgischen Neutralität 
durch den anderen sicherte (61). Grey war weder imstande noch gewillt, so 
zu handeln. Er war von der Gladstoneschen Voraussehung — der Neu- 
tralität Englands im Falle eines Krieges — von vornherein abgegangen, er 
hatte sie auch dann nichte in Aussicht gestellt, als Deutschland erllärte, daß 
es im Falle einer Verständigung die belgische Neutralität wahren und 
Frankreich nicht verkürzen werde, sondern sich ausdrücklich „freie Hand“ 
vorbehalten. Diese Handlungsfreiheit war grundsätzlich anders als 1870, 
und zwar nicht auf den Frieden, sondern auf den Krieg gerichtet. 
Unter diesen Umständen war König Alberes Bitte um ein diplomati- 
sches Dazwischentreten Englands gegenstandslos. Sie diente aber dem 
britischen Kabinett als willkommene WVeranlassung, um nun in Berlin 
kategorisch die Achtung der belgischen Neutralität zu verlangen (62). Deutsch- 
land antwortete, daß es selbst im Falle eines bewaffneten Konflikts unter 
keinem Vorwand belgisches Gebiet annektieren werde, wies aber darauf hin, 
daß die deuesche Armee nicht irgendeinem Angriff über Belgien ausgesegt 
werden dürfe, der nach unwiderleglichen Beweisen geplant sei (63). Darauf 
stellte England, nun von der Entwicklung auf eine sichere Plattform geführt, 
ein Al#imatum (64). Das bedeutete den Krieg. 
Da aber inzwischen die in Brüssel gesetzte Frist abgelaufen war, er- 
klärte Deutschland der belgischen Regierung in der Frühe des 4. August, 
daß es zur Tat schreiten und sich den Durchmarsch erzwingen müsse (65). 
Deutsche Truppen rückten über die Grenze. England aber sprach alsbald in 
Brüssel die Erwartung aus, daß Belgien mit allen Mitteln Wider. 
stand leisten werde, und bot in diesem Falle im Anschluß an Frankreich 
und Rußland ein gemeinsames Vorgehen mit der belgischen Regierung an, 
um Deutschland entgegenzutreten (66). Damite war Belgien kurzerhand 
in den europäischen Krieg hineingerissen, nicht nur als Berteidiger des 
eigenen Bodens, den Deutschland unter Verletzung der Neutralität betrat, 
sondern auch als Teilhaber des Dreiverbands. Die Formel „England er- 
wartet“, die ausgesprochen wurde, als würde England erst jetzt und dadurch 
zum Eintritt in den Waffenbund Rußlands und Frankreichs veranlaßt,
	        
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