Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

76 Die militärische Lage Europas 
war. Das strategische Eisenbahnnetz, das die Russen hinter der Weichsel an- 
gelegt hatten, wies mit seinen vorzüglichen Längsverbindungen deutlich auf 
Flügeloperationen hin. Man beabsichtigte, von Warschau bis Iwangorod 
eine Verteidigungslinie zu schaffen, die den Aufmarsch der russischen Heere 
vollständig sicherstellte und allen Verschiebungen nach den Flügeln weitesten 
Spielraum ließ. Noch bis zum Jahre 1910 waren die russischen Operations. 
pläne auf die Versammlung des Heeres hinter dem Bug gestimmt, da sich 
die russische Armee von dem mandschurischen Feldzug noch nicht erholt hatte 
und der Versammlungsraum nicht zu fern von Moslau gesucht werden 
sollte. In diesem Falle war eine russische Angriffsbewegung erst drei Monate 
nach der Kriegserklärung zu erwarten und die befestigte Weichsel, und Narew. 
linie mehr zur Berkeidigung als zum Ausfall bestimmt. Auch in diesem 
Fall aber wies der russische Angriff nach Nordwesten und Südwesten und 
mußte durch eine exzentrische Borbewegung auf den Flügeln die Entscheidung 
in Preußen und Galizien zu erringen suchen. Seit dem Jahre 1911 wuchs 
die Zuversicht der russischen Heeresleitung auf einen Angriffsfeldzug, und 
man begann nun den polnischen Aufstellungsraum zwischen Weichsel, 
Njemen und Bug als die gegebene Ausfallstellung zu betrachten und mit 
französischem Gelde als solchen auszubauen. 
Im Jahre 1913 verdichteten sich diese Absichten zu einem Feldzugsplan, 
der eine rasche Bersammlung des Heeres und einen überwältigenden Angriff 
auf den Flügeln vorsah. Zu diesem Iweck mußte man auf einen weiteren 
Ausbau des Eisenbahnneyes nördlich der Weichsel und an der Südwestgrenze 
gegen Galizien und die Bukowina bedacht sein. Doch waren dazu noch nicht 
alle Anstalten getroffen, als der große Krieg ausbrach. 
Es ist anzunehmen, daß im Jahre 1913 zwischen Frankreich und Ruß. 
land für den Fall eines Krieges Abmachungen getroffen wurden, welche dem 
russischen Heere eine raschere Bereiestellung und einen noch weiter nach vorn 
verlegten Aufmarsch zur Bundespflicht machten. Die Gewährung einer 
neuen Milliardenanleihe war von Frankreich ausdrücklich an die Erfüllung 
dieser Bedingung geknüpft worden. Deurschland sollte nicht in die Lage 
kommen, seine gesamten Streitkräfte gegen Frankreich zu schleudern und 
dieses nieder zuringen, ebe die russische Armee mit versammelten Kräften im 
Felde erschien. Waren auch die Eisenbahnbauten in den Räumen Lublin, 
Krasnik, Mlawa und Wloclawek, die diesem Iwecke zu dienen hatten, bei 
Ausbruch des Krieges noch nicht ausgeführt, so hatte die russische Heeres- 
verwaltung doch schon im Frieden beträchtliche Verschiebungen und Ver- 
stärkungen der polnischen und wolhynischen Streitkräfte vorgenommen. 
Das militärische Schwergewicht wurde dadurch so greifbar an die Wesl. 
grenze des russischen Reiches, und zwar deutlich erkennbar in der Richtung 
gegen die preußische Weichsellinie und die galizische Grenze verlegt, daß daraus 
im Kriegsfalle der entschiedene Angriffswille gefolgert werden mußte (2).
	        
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