Full text: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Erster Band. (1)

Die Russen 77 
Wie sich im Verlaufe des Krieges ergab, war die Vereitstellung der 
russischen Armee eine viel größere, als vermutet worden ist. Die russischen 
Heere waren entschlossen, die Scharte auszuwehen, die sie in Ostasien erlicten 
hatten. Die Armee kämpfte diesmal nicht gegen einen exotischen Gegner, 
der weitab von ihrer Grundstellung und außerhalb ihres Gedankenkreises 
wohnte und in einem Kolonialfeldzug bekämpft werden mußte, sondern zog 
gegen den großen Feind im Westen zu Feld, der sich der Ausbreitung des 
panslawistischen Ideals entgegenstellte und dem Volke als „Schulmeister" 
verhaßt war. Das russische Heer führte diesen Krieg als Kontinencalkrieg 
und im vollen Besig seiner riesigen Grundstellung, von der es auch im 
Unglück nicht abgedränge werden konnte. Diese Grundstellung war zur 
Verteidigung und zum Angriff in gleicher Weise geeignet und in der Raum- 
tiefe weichin verschiebbar. 
Auch den Festungen, die zum Teil weiträumige Lager darstellten, war 
von seiten der Russen vor dem Kriege vermehrte Aufmerksamkeit gewidmet 
worden. Bom Njemenknie bis zur Mündung des San in die Weichsel zog 
sich eine nacürliche Sperre von Flüssen, Sümpfen und Brüchen, die durch 
Festungen und Forts verkettet wurde und zur Versammlung gewaltiger 
Angriffsheere wie zur Aufnahme zurückgehender Armeen in gleichem Maße 
dienlich waren. Kowno, Olita und Grodno am Njemen, Ossowiez am Bobr, 
Lomca, Ostrolenka, Pultusk und Nowo-Georgiewsk am Narew wirkten 
als Ausfalltore oder Zufluchtsorte, je nachdem der Angriff gegen Ostpreußen 
vorgetragen werden sollte oder eine geschlagene Armee wieder aufsgenommen 
und vor dem nachdrängenden Feinde gesichert werden mußte. Im Zu- 
sammenhange der russischen Gesamtfront gewann die Linie Kowno—Nowo- 
Georgiewsk die Bedeutung einer starken Verteidigungsflanke, welche einem 
siegreich aus Ostpreußen vorbrechenden Gegner verbot, die polnische Weichsel. 
linie zu umfassen und in die russischen Ostseeprovinzen einzufallen. Die 
polnische Mittelskellung sprang als mächtige Bastion gegen Westen vor, 
Warschau und Iwangorod bildeten die mächtigen Ausfalltore dieser Haupt. 
front. Hinter ihnen erschien Brest.Litowstk als die gegebene Grundstellung 
und Wegspinne, wo sich die Radiallinien des strategischen Eisenbahnnetzes 
trasen. Im Süden deckte das wolhynische Festungsdreieck den Aufmarsch 
vor Kiew und den Weg nach Odessa, während das um Ostgalizien herum- 
greifende Beßarabien Gelegenheit zu Flankenbewegungen bot. 
In diesem weitgespannten, aber von einem reichen Bahnneg durch- 
flochtenen Raume vollzog sich die Versammlung des russischen Heeres. 
Eine starke Angriffsgruppe wurde bei Kowno und die zweite bei Kiew 
versammelt, und zwar alles schon so zeitig bewegungsfähig, daß der Auf.- 
marsch in kurzer Frist bewerkstelligt werden konnte. 
Die Stärke der russischen Feldarmee hatte sich schon zu Friedenszeiten 
der Berechnung entzogen. Mit 1 320 000 Köpfen wurde sie für das euro-
	        
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