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Alle drei Richtungen, die antisemitische, die antiaristokratische und die
antikirchliche, finden einen gemeinsamen Vereinigungspunkt in der Geißler-
bewegung. Die Flagellanten sind es, die, wo immer sie auftreten und
die Juden noch ungeschädigt unter obrigkeitlichem Schutze vorfinden, am
heftigsten den Judenmord verlangen; sie wollen ferner nichts von einer
geistlichen Obrigkeit unter sich wissen; in der allenthalben von ihnen
verlesenen Geißelpredigt finden sich versteckte Drohungen gegen die
Geistlichkeit, und wenn auch der Zutritt von Geistlichen gestattet war,
so fanden doch in ihrer Vereinigung nur Franziskaner Aufnahme,
gerade derjenige Orden, der damals noch gegen das Papsttum und
den römisch gesinnten Klerus feindselig gesinnt war, wenn auch nicht
mehr in dem Maße wie ein Menschenalter vorher. Dagegen waren
die Dominikaner, von Haus aus, wie wir wissen, zum Zwecke der
„Ketzerbelehrung“ gegründet, den Geißlern so verhaßt, daß sie, wie
uns der in meißnischen und thüringischen Dingen recht wohl unter-
richtete Heinrich von Hervord, ein Zeitgenosse und übrigens auch ein
Dominikaner, berichtet, auf der Grenze von Meißen und Bayern, also
doch wohl im Vogtlande, von zweien dieser Mönche den einen ergriffen
und steinigten, während den andern nur die Geschwindigkeit seiner
Beine vor gleichem Schicksale bewahrte.
So kann es nicht auffallen, wenn das Papsttum ziemlich bald
sich gegen die Flagellanten erklärte; Clemens VI., der übrigens seinen
Juden zu Avignon, wo damals das Papsttum seinen Sitz hatte, recht
wohl Sicherheit vor den Verfolgungen dieser Zeit zu verschaffen wußte,
erließ am 20. Oktober 1349 eine Bulle, in der er die Geißelfahrten
einfach untersagte. Dies hatte bezeichnenderweise den merkwürdigen
Erfolg, der aber dem Kenner der kirchlichen Zustände dieser Zeit mit
nichten merkwürdig vorkommen wird, daß das Interesse an den Geißel-
fahrten zunahm, die Popularität der Sache sich mehrte. Aber mit einem
Male trat ein Umschlag ein; die Behörden, und jetzt nicht bloß mehr
die geistlichen, sondern auch die weltlichen, wandten sich allenthalben ein-
hellig gegen die Geißler. Gewiß war ein Grund hierbei maßgebend, der
vielfach in alten Chroniken erwähnt wird, daß nämlich schließlich doch viel
Gesindel sich den Fahrten anschloß, obwohl der anfängliche Preis der
Teilnahme fast auf das Vierfache erhöht war; auch durften dann Frauen,
ganz im Gegensatz zu den ursprünglichen Satzungen, an den Wall-