1858 Europäische Lage. 307
Allianz der drei Ostmächte, welche seit 1815 den vertrags-
mäßigen Zustand Europas gesichert hatte, war gründlich
zerrissen; über den künftigen Plänen des französischen Empor-
kömmlings, der sich so plötzlich an die Spitze des Welttheils
geschwungen, lag eine bedenkliche Unsicherheit, welche dadurch
nicht sorgenfreier wurde, daß die von Bismarck schon 1856
geäußerte Ansicht, Napoleon denke seine nächste Thätigkeit
gegen Österreichs Herrschaft in Italien zu richten, jetzt in
weiten Kreisen getheilt wurde. Cavour, der im Sommer 1858
einen Aufenthalt in Baden-Baden machte, erzählte dort den
preußischen Staatsmännern, mit einer allerdings beschränkten
Offenheit, er habe soeben in Plombieères mit Napoleon die
Zustände Italiens besprochen; der Kaiser sei in dieser Hin-
sicht nicht ganz frei, da er auf den französischen Klerus und
dessen Sympathien mit dem Papste und folglich mit Oster-
reich Rücksicht nehmen müsse; so viel aber sei gewiß, daß,
wenn es zum Bruche zwischen Osterreich und Sardinien käme,
Napoleon an Sardiniens Seite stehen würde. Ein anwesender
russischer Diplomat, Herr von Balabin, bemerkte dazu: wenn
Ihr ausrückt, wird auch die russische Garde marschiren. Der
Prinz von Preußen, welchem der sardinische Staatsmann
ebenfalls die traurigen Verhältnisse Italiens schilderte, trug
kein Bedenken, ihin seine Bereitwilligkeit auszusprechen, zur
Besserung derselben mitzuwirken; er hatte allerdings dabei
nichts Anderes als Reformen der theils stagnirenden, theils
despotischen Verwaltung der italienischen Territorien im Sinn.
Jedesfalls war Osterreichs Stellung in keiner Weise behaglich.
Frankreich in verdeckter, vielleicht bald offener Feindseligkeit,
Rußland in unverhehltem, bitterem Grolle, Preußen durch
die Neuenburger und die deutschen Händel schwer gereizt und
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