Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 12.) 3
züglich der Qualität der Truppen sei eine Schätzung in Friedenszeiten schwer,
doch halte er die deutschen Truppen für die besten der Welt. Was die
Marine betreffe, so sei unsre Flotte der russischen allein gewachsen, aber
event. seien starke französische Schiffe nach der Ostsee zu erwarten, um die
Herrschaft Rußlands in der Ostsee mit faktischem Vasallentum Dänemarks
zu erlangen. Im Mittelmeer sei Italien auf starke englische Unterstützung
notwendig angewiesen, auch dann sei noch fraglich, wer event. siegen würde.
Oesterreichs Landmacht sei für uns wesenilich wichtiger, besonders wenn
Oesterreich den Kriegsschauplatz nördlich der Karpathen verlege. Graf Caprivi
stützt sich bei seinen Ausführungen auf eine Denkschrift des Grafen Moltke
vom Jahre 1879, deren Hauptinhalt er verliest. Er schildert dann ein-
gehend die natürlichen Schwierigkeiten und Schwächen jeder Koalition. Der
Hauptstoß der Gegner von beiden Seiten würde jedenfalls gegen uns als
die stärkste Macht des Dreibundes gerichtet sein. Für uns würde erfahrungs-
mäßig die Offensive geboten sein, die strategische Offensive schwäche aber
numerisch bedeutend und erfordert daher eine erhebliche Uebermacht. Die
Anwendung der sogenannten „inneren Linie“, von der aus man abwechselnd
nach beiden Seiten operiert, sei für Deutschland nicht zulässig, wir können
nicht erst bis Paris gehen und dann gegen Rußland. Ebenso sei die Etablie-
rung eines „Volkskrieges“ durch die Natur der norddeutschen Ebene unmög-
lich gemacht. Graf Caprivi stellt dann ausführlich die Stärkeverhältnisse
der verschiedenen Armeen unter den verschiedenen möglichen Umständen
einander gegenüber, aus welchen er folgert, daß Deutschland und der Drei-
bund in der Minorität sind. Ganz besonders sei unsre lange Ostgrenze,
ohne natürliche Verteidigung, nur durch Offensive zu halten. Die russischen
Kriegsvorbereitungen gehen langsam, aber stetig vorwärts. Die Politik
braucht nicht nur Sieg, sie braucht schnelle Siege. Schnelle Erfolge sind
auch erforderlich mit Rücksicht auf die Bundesgenossen und auf die Neu-
tralen. Die Politik erfordert auch kurze Kriege; endlich muß die Politik
wünschen, daß der Erfolg nachhaltig sei, um auf lange Jahre die Erneuerung
des Kriegs zu verhüten. Alle diese Vorteile seien aber nur durch die Offensive
zu erreichen. Die dazu berufenen Männer sind von der Ueberzeugung durch-
drungen und erklären, daß die bisherigen Mittel nicht mehr genügen im
Verhältnis zu der gewachsenen Stärke der Gegner; die verbündeten Regie-
rungen können daher die Verantwortung mit der bisherigen Rüstung nicht
übernehmen und darum haben sie die Militärvorlage an den Reichstag gebracht.
12. Januar. (Abgeordnetenhaus.) Finanzminister Miquel
legt den Etat vor.
Der Etat schließt ab in Einnahme mit 1,834,490,460 M, in Aus-
gabe im Ordinarium mit 1,844,803,207 M, im Extraordinarium mit
49,294,201 M, zusammen also mit 1,894,097,460 M, so daß also ein Fehl-
betrag von 58,600,000 M zu decken bleibt. Bei dem unerfreulichen Zu-
stande, daß wir zum ersten Male wieder genötigt sind, den Etat durch eine
Anleihe zu balanzieren, müssen wir uns darüber klar werden, daß in den
Betriebsverwaltungen, namentlich nach Verstaatlichung der Eisenbahnen, die
eine entscheidende Stellung in unserer Finanzverwaltung einnehmen, außer-
ordentliche Schwankungen stattgefunden haben. Der gegenwärtig vorgelegte
Etat gibt ein Spiegelbild der allgemeinen gewerblichen Entwickelung. Die
Eisenbahnverwaltung allein weist einen Minderertrag von 29 Millionen auf,
die Bergwerksverwaltung ist veranschlagt mit einem Minderüberschuß von
3 Millionen. Daneben sind die Ueberweisungen aus dem Reiche in einem
sehr starken Rückgang; es beträgt die Matrikularumlage, welche wir dem
Reiche leisten müssen, 23,074, 000 M mehr. Bei solchen plötzlichen Einnahme-
1