Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

108 Der Ausbruch des Krieges 
als verpaßt gefühlt. Im Jahr 1897 war die Zerstörung des flotten- 
losen Deutschen Reiches kaltblütig erörtert worden. Im Jahr 1905 
drohte der Zivillord der Admiralität der noch winzigen deutschen Flotte 
offen mit dem vernichtenden Überfall. Im Jahre 1908/9 beglei- 
tete wenigstens eine Flottenpanik, wenn auch keine Drohung mehr, 
die bosnische Krisis; das Schwert saß schon nicht mehr so locker, 
der Ton war nicht mehr so überhebend und brutal, aber noch recht er- 
regt gewesen. In der Agadir- und Haldanezeit 1911/12 mischte sich in 
den feindseligen Ton eine gewisse Selbstbeherrschung und wachsende 
Vorsicht. Als der letzte Versuch, uns die englische Oberherrschaft, aus- 
gedrückt in dem Flottenverhältnis 2:1, aufzunötigen, 1912 von uns 
zurückgewiesen worden war, erklärten sich die britischen Minister bald 
darauf mit unserem Flottenbau im Verhältnis 10:16 zufrieden und 
zeigten uns in allen Angelegenheiten mehr Rücksicht. Sie gewährten 
1912/14 unserer Unterstützung des österreichisch-ungarischen Stand- 
punktes Förderung, wobei unerörtert bleiben soll, inwieweit hierbei 
die Vertiefung russisch-deutscher Gegensätze als erwünschte Nebenwir- 
kung empfunden wurde. Im Juli 1914 bewies England, wie ich später 
erfahren habe, anfänglich den Wunsch, um Serbiens willen keinen 
Weltkrieg zu entfesseln. Hierbei spielte wohl das bei einem Händler- 
volke besonders siarke Bedürfnis mit, den allgemeinen Frieden so- 
lange zu erhalten, als das eigene Interesse nicht gefährdet war. Da- 
gegen wäre es falsch, dieses Verhalten als Freundschaft zu Deutsch- 
land zu erklären. Jeden unbewachten Augenblick würde England benutzt 
haben, um das deutsche Volk in den Zustand der Jämmerlichkeit 
zurückzuführen, aus dem es allein der Staat der Hohenzollern und 
Bismarcks emporgehoben hatte. 
Dabei war durch das Erstarken der russischen Macht die Gefahr eines 
Weltkriegs im ganzen immer näher gerückt, seit Rußland zur Entente 
getreten war und unssre in vielem verfehlte Russenpolitik es nicht 
verstanden hatte, die Spannung zu mildern. Die Rüstungen Rußlands 
und Frankreichs waren bis an die äußerste Grenze gesteigert worden. 
In der Begünstigung dieser Kriegsvorbereitungen und der ihnen zu- 
grundeliegenden Eroberungsgelüste tritt Englands geschichtliche Schuld 
unwiderleglich zutage, gerade weil es sich selbst infolge des vermehr- 
ten eigenen Kriegsrisikos uns gegenüber vorsichtiger zurückhielt und 
innerhalb der durch England erzeugten labilen Gesamtlage Europas
	        
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