Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

114 Der Ausbruch des Krieges 
konnten freilich nicht gut durch irgendeinen Kulturstaat in Schutz 
genommen werden. Als ich jene Mitteilung nach Tarasp empfing, war 
indes mein erster Eindruck, daß dieses Ultimatum für Serbien unan- 
nehmbar wäre und leicht den Weltkrieg herbeiführen könnte. An die 
Möglichkeit, einen serbisch-österreichischen Waffengang gegenüber Ruß- 
land zu „lokalisieren“, habe ich nicht geglaubt, ebensowenig wie an 
die Neutralität Englands in einem Festlandskrieg. In diesem Sinne 
habe ich an meinen Amtsvertreter geschrieben und eine Verständigung 
mit dem Zaren empfohlen. 
Diese Anregung ist ohne Einfluß geblieben. 
Die Gefahr der Lage sah ich vor allem darin, daß England das 
Endglied der Ententekette bildete. 
Die überlieferte Abneigung des Panslawismus gegen das Deutsche 
Reich und die russisch-österreichische Eifersucht auf der Balkanhalbinsel 
bestanden trotz der Potsdamer Begegnung von 1910 fort, und die rus- 
sische Intelligenz hatte sich durch unsere Balkanpolitik 1908/14 erhitzen 
lassen. Die Kreise um die Nowoje Wremja wünschten den Krieg, 
wenn auch nicht vor 1916. Dennoch hatten Ssasonow und der Zar 
die Zügel noch genügend in der Hand, so daß die deutsche Politik den 
russischen Expansionstrieb, meiner festen Überzeugung nach, von uns 
und von Österreich-Ungarn noch immer ablenken konnte, wenn sie 
ihm nach anderen, für uns nicht vitalen Fronten hin Luft gab. Erst 
die Ungeschicklichkeit unserer Politik verschaffte der russischen Kriegs- 
partei Oberwasser und machte es Suchomlinow zuletzt möglich, den 
Zaren zu betrügen.  
Rußland hatte freilich kein moralisches Recht, aus der Züchtigung 
Belgrads einen Krieg zu machen, aber man durfte die Gefahr nicht 
unterschätzen, daß weite russische Kreise dies fordern würden. Ich war 
zwar vor dem Ultimatum davon überzeugt, daß ein vertrauensvolles 
Verhandeln mit dem Zaren die Petersburger Kriegspartei im Zaum 
halten würde; aber wenn wir zu scharf vorgingen, so war fast mit 
Sicherheit darauf zu rechnen, daß England entsprechend einer jahr- 
hundertelangen politischen Überlieferung zur Erhaltung des „festlän- 
dischen Gleichgewichts“, wie es dasselbe verstand, den Krieg entfesselte. 
Diese Gefahr, den schlummernden englischen Kriegswillen zu wecken, 
habe ich in einem Gespräch mit dem Prinzen Heinrich, der mich Mitte 
Juli in Tarasp besuchte, betont. Meine Auffassungen wurden von dem
	        
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