Die englische Politik 121
von dem Grey im September 1912 zu Ssasonow gesagt hatte, „daß,
wenn die in Frage stehenden Umstände eingetreten sein würden, Eng-
land alles daran setzen würde, um der deutschen Machtstellung den
fühlbarsten Schlag zuzufügen.“ Der Zweifel kann sich einzig und
allein auf den genauen Zeitpunkt im Juli beziehen, zu welchem sich
dieser Umschlag im britischen Kabinett vollzogen hat. England war
durch geographische und militärische Umstände in der glücklichen Lage
sich im Hintergrund halten und mit gewohnter Meisterschaft sein pu-
ritanisches Humanitätsgesicht auch noch in dem Augenblick wahren
zu können, wo es zum Kriege schon entschlossen war. Hierdurch hat
das britische Kabinett nicht nur das englische Volk, sondern auch das
deutsche, welches schon zur Zeit der Goten auf fremde Heuchelei stets
hereingefallen ist, bestochen. Suchomlinow hätte niemals das Räder-
werk des Krieges in Gang gesetzt, wenn er nicht die Gewißheit ge-
habt hätte, daß die britische Macht bereit stand einzugreifen.
Nach den Vorgängen der letzten Jahre war ein Zweifel darüber
kaum möglich, daß England eine militärische Schwächung Frank-
reichs durch uns niemals zulassen würde, und beim Einmarsch in
Serbien mußte man im ungünstigsten Falle doch die Möglich-
keit eines Krieges mit Rußland und damit auch gegen Frank-
reich in Rechnung stellen. Da aber Bethmann die zunehmende
englische Friedlichkeit nicht gern als Wirkung unserer wachsenden
Seemacht erkannt, sondern lieber sentimental aufgefaßt hatte, so
ging auch das Gefühl für die realen Grenzen dieser Friedlich-
keit bei ihm verloren. Die trotz allem steigende englische Verständigungs-
neigung beruhte, wie bemerkt, lediglich auf nüchterner Einschätzung
der sinkenden Einträglichkeit eines Krieges. England hatte begon-
nen, unsere Macht anzuerkennen, solange wir die seinige in eng-
lischer Auffassung achteten. Wir mochten diese als zu weitgehend
ansehen, mußten uns aber der Weltlage anpassen. Bethmann da-
gegen, der 1912 die deutschen Interessen verkannt hatte, verkannte
jetzt den Umfang der britischen Ansprüche und hoffte im Juli 1914
wiederum auf einen Ausgleich des guten Herzens statt der Interessen.
Derselbe ungenügend entwickelte Tatsachensinn, der die eigenen Staats-
notwendigkeiten weichlich auffaßte, sah auch die britischen Gedanken-
gänge unscharf und lieferte deshalb jetzt durch ungelenkes Zugreifen die
Gelegenheit zum Zuziehen der Ententeschlinge.