Falsche Einschätzung Englands 123
zurückschreckten. Bethmann und Jagow beharrten bei ihrer Überzeugung
von der Unvermeidlichkeit, aber Lokalisierbarkeit des serbisch-österreichi-
schen Konfliktes während uneinbringlicher Tage, solange, bis die von ihnen
gröblich unterschätzten zum Kriege treibenden Kräfte innerhalb der Entente
obgesiegt hatten.
Man hatte in der Wilhelmstraße eine eigentümliche Auffassung
von den Möglichkeiten, den heiß erstrebten Frieden zu sichern durch
eine nervöse Kriegsbereitschaft, die lediglich schwache Vorspiegelung
war. Diese Politiker, die niemals gewillt waren, das Schwert zu
ziehen, und die leider auch, wie sich gezeigt hat, außerstande waren,
die militärischen Notwendigkeiten einer Kriegsvorbereitung überhaupt
zu beurteilen, glaubten mit unsicheren kriegerischen Maßnahmen drohen
zu können, welche sie selbst nicht ernst nahmen.
Das politische Augenmaß dieser Männer erregt Staunen. Am 20. Juli
erklärte Staatssekretär v. Jagow einem Vertreter des Admiralstabs, Eng-
land würde, wenn es zum Krieg des Dreibundes gegen den Zweibund
käme, voraussichtlich nicht mitmachen. Er, Jagow, hätte aber einen Ge-
danken, wie man die Neigung der Engländer zur Neutralität viel-
leicht noch verstärken könnte, nämlich indem wir den Engländern
drohten, sofort Holland zu besetzen, falls sich England gegen uns er-
klärte. Natürlich wäre das Ganze nur ein Bluff. Am folgenden Tag
sagte der Admiral nach Rücksprache im Reichsmarineamt zu Jagow, sein
„Bluff“ wäre wohl das sicherste Mittel, um England zum Krieg
gegen uns zu zwingen. Der Abglanz Bismarckscher Autorität, der für
die Offiziere meines Amtes noch über der Wilhelmstraße gelegen hatte,
verbrauchte sich rasch, und man meldete mir den Vorfall mit dem Zu-
satz: „Man kann sich nur erneut fragen: Wie ist es möglich, daß einer
solchen Persönlichkeit die Leitung der auswärtigen Politik Deutschlands
anvertraut wird?“ Jagow war gerade wegen seines vorsichtigen Natu-
rells, das ihm jeden Entschluß erschwerte, von Bethmann an die Spitze
des Auswärtigen Amts gesetzt worden. Er wäre der letzte gewesen,
Holland zu besetzen, was ja übrigens jedem deutschen Interesse zuwider
gelaufen wäre. Aber geradeso naiv, wie er ein paar Monate früher
dem französischen Botschafter einen Appetit auf belgische Kolonien vor-
spiegelte, den Deutschland im Besitz seiner eigenen, noch wenig erschlos-
senen afrikanischen Reiche in Wirklichkeit nicht besaß, so glaubte er auch
jetzt auf England durch eine „starke“ Geste Eindruck machen zu können.