Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Unsere Kriegserklärung an Frankreich 135 
aber nicht befolgt worden ist. Daß Bethmann-Hollweg schon am 
29. Juli dem britischen Botschafter, damit den gesamten Entente- 
mächten und Belgien selbst, die Möglichkeit kriegerischer Operationen 
in Belgien eröffnet hatte, war mir damals unbekannt. Es war dies 
in der Idee geschehen, gerade mit England ein Vertrauensverhältnis 
sogar über den Festlandskrieg hinweg zu bewahren. 
Der Eindruck von der Kopflosigkeit unserer politischen Leitung 
wurde immer beunruhigender. Der Durchmarsch durch Belgien schien 
ihr vorher nicht eine feststehende Tatsache gewesen zu sein. Seit 
der russischen Mobilmachung machte der Kanzler den Eindruck eines 
Ertrinkenden. 
Während sich die Juristen des Auswärtigen Amts in die Doktor- 
frage vertieften, ob wir nun schon mit Rußland im Kriege stünden 
oder noch nicht, stellte sich nebenbei heraus, daß man vergessen hatte, 
Österreich zu fragen, ob es mit uns gegen Rußland kämpfen wollte. 
Das sollte nun nachgeholt werden. Ebenso hatte Italien keine Nach- 
richt von unserer Kriegserklärung gegen Rußland bekommen. Beim 
Herausgehen sprachen die Militärs mit mir entsetzt über den Zu- 
stand der politischen Leitung. Nicht weniger bekümmerte mich aber 
der Eindruck, daß der Generalstab die Bedeutung eines Krieges gegen 
England nicht richtig einschätzte und darüber rücksichtslos zugunsten 
des Krieges gegen Frankreich hinwegging, weil er anscheinend nur auf 
einen kurzen Krieg eingestellt war. Die Entscheidungen der Stunde 
wurden in nichts geleitet durch vorerwogene politisch- strategische Mobil- 
machungspläne für den Gesamtkrieg. 
Der Kaiser war, als er das Scheitern seiner Friedensbemühungen 
erkannte, ins Innerste getroffen. Ein alter Vertrauter, der mit ihm in 
den ersten Augusttagen zusammenkam, äußerte, er hätte nie ein so 
tragisches und zerstörtes Gesicht gesehen, wie das des Kaisers in 
diesen Tagen. · 
Die erregten Aussprachen zwischen Bethmann und Moltke setzten 
sich am 2. August in meinem Beisein beim Kaiser im Schlosse fort. 
Moltke legte keinen Wert auf eine formelle Kriegserklärung an Frank- 
reich. Er wies eine Reihe feindlicher Handlungen der Franzosen nach, 
die ihm berichtet worden waren; der Krieg sei tatsächlich da und die 
Entwicklung nicht aufzuhalten. Ich legte wiederholt dar, ich könnte nicht 
einsehen, weshalb überhaupt eine Kriegserklärung an Frankreich erfolgen
	        
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