Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Die belgische Frage 137 
sein, dann rückte auch die tatsächlich reine Notwehrmaßregel des bel- 
gischen Durchmarsches in das verhängnisvolle Licht eines brutalen Ge- 
waltschrittes. Die Feinde bekamen einen überwältigenden Stoff, uns 
zu verleumden, in die Hand, wenn wir nach dem Ultimatum an 
Serbien, nach der Ablehnung des Greyschen Konferenzvorschlages, nach 
der formellen Kriegserklärung an Rußland und Frankreich auch noch 
durch Belgien marschierten. Wie zweifelhaft und zweideutig war die 
belgische Neutralität und ihre von England veranlaßte Verteidigung 
mit den Waffen! Nur unser vollendetes politisches Ungeschick hat 
diesem Land die legendäre Märtyrerkrone geflochten. Wir spielten in 
allem das Prävenire, wie um den Feinden ihr Spiel zu erleichtern. Der 
Generalstab war nicht die Stelle, um die politische Rückwirkung stra- 
tegischer Notwendigkeiten allein zu beurteilen. Das von Bethmann 
aufgebrachte „Unrecht“ an Belgien aber gab den Feinden überdies 
auch noch die Bestätigung ihrer Verleumdungen gegen uns und ver- 
wirrte im weiteren Verlauf der Entwicklung das Rechtsgefühl unseres 
eigenen Volkes in unheilvollster Art. 
Diese Überlegungen über die belgische Frage sind von mir erst 
im Lauf des Krieges gewonnen worden, da ich im Frieden wie beim 
Kriegsausbruch über diese ganze Frage nicht unterrichtet worden bin. 
Die diplomatischen Fehler aber, die wir bei der Aufrollung der Ope- 
rationen im Westen begingen, waren mir unmittelbar in jener 
Sitzung klar. 
Nach dem Weggang des Kanzlers aus der Sitzung beklagte sich 
Moltke beim Kaiser über den „deplorablen“ Zustand der politischen 
Leitung, die keinerlei Vorbereitungen für die Lage besäße und jetzt, 
da die Lawine im Rollen wäre, immer noch an nichts als juristische 
Noten dächte. 
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Am 6. August besuchte mich Jagow, um mir nahezulegen, daß 
das Reichsmarineamt keine politischen Nachrichten an den Kaiser geben 
möchte, — was niemals geschehen war. Ich machte Vorhaltungen 
wegen der völligen Deroute der politischen Leitung, die für den Kriegs- 
fall doch gewisse Vorüberlegungen hätte treffen sollen. Jetzt müßten 
wir alle verfügbare Kraft gegen den mächtigsten unserer Feinde kehren. 
Auf meine Frage, was werden würde, wenn wir Frankreich und
	        
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