Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

144 Hauptfragen des Krieges 
nug, um aus dem Krieg gegen England, in welchen sie hinein- 
geraten war, mit Ehren wieder herauszukommen. 
Am 19. August 1914 sagte ich dem Kanzler in Gegenwart von 
Moltke und Jagow: Was wir gegen Rußland erreichen können, drückt 
nicht auf England, sondern entlastet es. Die Verhältnisse haben 
uns gezwungen, mit einer Front zu schlagen, die nicht unseren po- 
litischen Interessen entspricht. Der deutsch-russische Krieg ist in Eng- 
land sehr volkstümlich. Die englischen Staatsmänner sind unbedingt 
entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten. Unsere Zukunft kann nur 
gerettet werden, wenn wir England bedrängen. Es kommt für die 
Entscheidung des Kriegs einzig darauf an, ob Deutschland oder Eng- 
land länger durchhalten kann. Unbedingt notwendig ist es, Calais 
und Boulogne zu besetzen. 
Dieser Gedankengang schien dem Kanzler nicht einzuleuchten. Er 
meinte, wir müßten selbst im Fall eines im Westen glücklichen Kriegs 
uns dort einschränken und unsere Kraft nach Osten wenden. Schon in 
der ersten Augusthälfte hatte der Kanzler einem gemeinsamen Bekannten 
erklärt: „Der Krieg mit England ist nur ein Gewittersturm, der rasch 
vorüberbraust. Nachher wird das Verhältnis besser als je.“ Bethmann 
ging darauf aus, eine Verständigung mit England zu suchen, und er 
hielt es deshalb für richtig, dieses Land auch mit unseren Kriegs- 
handlungen schonend anzufassen. England wäre „eine Bulldogge, die 
man nicht reizen dürfte“. Bethmann suchte jetzt nach der Freundschafts- 
hand, die er bei Greys Konferenzvorschlag nicht gefunden hatte. Er 
übersah, daß England, nachdem es einmal den Krieg unternommen, 
nun in klarer und kühler Folgerichtigkeit diesen Krieg auch gewinnen 
wollte. Der landmilitärische Standpunkt der Armee, eine gewisse Nach- 
giebigkeit des Kaisers und die unklaren politischen Vorstellungen weiter 
deutscher Kreise gaben dem Kanzler die Möglichkeit, sein zusammen- 
gestürztes Kartenhaus immer aufs neue aufzubauen. Er dachte an 
Greys Friedlichkeit in den ersten Juliwochen zurück, und da er deren 
Grund, den großen Ernst des Risikos bei einem Seekrieg, nie begriffen 
hatte, so setzte er dieselbe Friedlichkeit auch noch voraus, als England 
den Entschluß zum Krieg gefaßt hatte und durch die Begleitumstände 
des Kriegsausbruchs, sowie durch die Nichtbesetzung der Kanalküste, 
die Zurückhaltung der deutschen Marine und die Ereignisse an der Marne 
in der Aussicht auf den Sieg bestärkt worden war. England folgte jetzt,
	        
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