Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

202 Der Unterseeboots-Krieg 
ihm zu einer steigenden Macht in Amerika verholfen. Es wurde durch 
unser scheinbar böses Gewissen der englischen Lesart Vorschub geleistet, 
daß der Ubootskrieg etwas Unsittliches wäre. So haben wir uns durch 
unangebrachtes Verhalten die Wiederaufnahme des Ubootskrieges er- 
schwert und gefährlicher gemacht. Denn er schien nun, nachdem wir 
so lange auf unser gutes Recht verzichtet hatten, auch nach unserer 
eigenen Auffassung gegen die Menschlichkeit zu verstoßen, während kein 
Hahn danach krähte, wenn England viel Schlimmeres tat. Es übertrifft 
an Entschlossenheit, Grausamkeit und zynischem Herunterziehen des Geg- 
ners unsre deutsche Art um das Vielfache, freilich auch an Geschick, den 
eigenen Standpunkt sogar dem Ohr des Gegners annehmbar zu machen. 
So wurde das deutsche Volk in seiner unbegrenzten Fremdgläubigkeit 
durch unser Schwanken irre, sah in dem englischen Hungerkrieg, welcher 
den Bankrott und den Umsturz, Schwindsucht und Todesjammer in dies 
bis dahin so blühende Volk trug, geduldig ein Stück göttlicher Weltord- 
nung. Demgegenüber sollte der Ubootskrieg grausam und unsittlich sein, 
er, der feindliche Schiffsladungen traf und den Feind kaum Menschen- 
leben kostete — in all den Jahren noch nicht soviele Leben, wie an einem 
Tag Deutsche an der Westfront fielen oder wie nach erfolgter Waffen- 
streckung durch die ummenschlich beibehaltene Hungerblockade täglich an 
deutscher Bevölkerung zugrunde gingl! Denn die angelsächsische Schein- 
heiligkeit und die deutsche Urteilslosigkeit kennen keine Grenzen. 
Die Befehle an die Unterseeboots-Kommandanten sind eine Kette 
von Ansätzen, Hemmungen und Widersprüchen, und haben uns bestes 
deutsches Blut gekostet, dafür den Enderfolg geraubt. Der Untersee- 
bootskrieg ist verloren gegangen, weil Deutschland nicht folgerichtig an 
dem Gedanken festgehalten hat, jedes berechtigte Mittel, das im Seekrieg 
zur Verfügung stand, rücksichtslos bis zum Ende anzuwenden. 
Wollte man aber diese Folgerichtigkeit nicht, dann mußte man im 
Frühjahr 1916 die Niederlage klaren Blicks annehmen. Sie wäre damals 
milder ausgefallen als später. Heer und Diplomatie wußten kein Mittel, 
die Niederlage abzuwenden. Dann war es ein Verbrechen, den Krieg 
gegen England nicht zu beendigen. Die Zeit arbeitete gegen uns. 
Noch, aber nicht lange, wußte die Marine ein Mittel, um England 
ins Mark zu treffen. Die Frage war nur: wollte man es auf die ameri- 
kanische Gefahr hin wagen? Wenn nicht, dann wurden wir schwächer 
und schwächer bis zum Zusammenbruch. Wenn ja, dann war kein
	        
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