Kriegsbriefe 1914 215
ter werden. Es ist nicht, daß ich denke, wir werden hier geradezu geschlagen,
obgleich man auch das nicht für absolut unmöglich halten darf. Unsere Truppen
sind den Franzosen an sich überlegen, aber die Franzosen haben die Eisenbahnen
im Rücken und können fortwährend Verschiebungen machen, dazu bei uns der
ungeheure Offiziersverlust. Augusta-Regiment 53 Offiziere von 60, I. Garde-
regiment nur Geringes weniger usf. Neben der obern Führung ist es der
viel karikierte Leutnant, der es macht; der ist aber nicht zu ersetzen.
Luxemburg, 22. IX.
Meine Lage hier ist dauernd scheußlich, denn eigentlich bin ich überflüssig.
Inzwischen ist dieser furchtbare Krieg etwas zum Stehen gekommen; aber
im ganzen sieht unsere Sache nicht gut. Nachdem unser Hauptplan offenbar
mißglückt ist, stehen wir frontal einer Übermacht gegenüber, die alle lokalen
Vorteile auf ihrer Seite hat und zweifellos ausgezeichnet geführt wird. Amerika
steht in Wirklichkeit auch gegen uns. Soeben bekomme ich die Nachricht, daß
100 000 Japaner in Schantung gelandet, das zeigt große Absichten seitens der
Japaner, und unsere Kolonie ist ohne jede Chance jetzt. Das ist besonders
furchtbar für mich. Wenn wir hier sogleich große Siege erlangt hätten, so
wäre unsere Lage anders. Darauf hatte ich gehofft, als ich in Coblenz den
Standpunkt vertrat, wir dürften Tsingtau nicht ohne Kampf aufgeben. So-
weit ich voraussehen kann, wird unsere Flotte nicht zum Schlagen kommen.
Luxemburg, 24. IX.
Unmittelbar nach dem Kriege nehme ich den Abschied. Den Neuaufbau
der Marine, wenn es dazu überhaupt kommt, muß ein anderer machen. Pohl,
Müller, der Reichskanzler und der Kaiser haben die Flotte zurückgehalten.
Ich glaube jetzt, daß sie keinen Schuß abgeben wird, und mein Lebenswerk
endet mit einem Minus.
Luxemburg, 27. IX.
Es kann ja nicht besser werden unter Bethmann. Wenn das deutsche Volk
einmal dahinter kommt, gibt es ein Unglück. Wie soll dieser Krieg enden,
darin liegt das Rätsel der Zukunft. Mit denselben Leuten, die ihn töricht
eingeleitet haben oder sich haben treiben lassen, die auf der ganzen Welt nichts
gemerkt und vorbereitet haben, mit diesen Leuten soll ein brauchbarer Frieden
zustande kommen? Das scheint mir wahrhaftig eine Quadratur des Zirkels.
Wir essen zwar in demselben Saal, sprechen aber kein Wort miteinander.
Charleville, 28. IX.
Das ganze Hauptquartier ist jetzt auseinandergerissen. Generalstab, Kriegs-
minister, Reichskanzler mit Auswärtigem Amt, alle wohnen für sich und essen,
glaube ich, auch für sich. Ich habe die Empfindung, man will uns nirgends
haben. Darin liegt das Schreckliche meiner Lage. Ein Leben lang habe ich
gearbeitet wie ein Pferd für die Marine, und jetzt, wo es zum Bruch gekommen
ist, habe ich nicht einmal Einfluß auf die Verwendung. Ich will gern zugeben,
daß die Lage der Flotte schwierig ist, aber weder Pohl noch Ingenohl hat den
Genius. Der erste Anlauf unserer Armee hat ungeheuer viel Blut gekostet
und verhältnißmäßig wenig eingebracht. „The silent pressure of seapower"