218 Kriegsbriefe 1914
deutung voll gewürdigt. Ein Uboot von uns hat ihn gesehen, die Leute aber
für bloße Flüchtlinge gehalten und nicht geschossen. Man fragt sich, ob die
80 000 Belgier und Engländer nicht besser im Mauseloch von Antwerpen steck-
ten, als jetzt für freie Feldverwendung benutzt zu werden. Trotzdem erleichtert
der Fall von Antwerpen doch unsere hiesige Lage. Auch aus Ostpreußen
wo man gestern recht besorgt war, sind heute ganz gute Nachrichten einge-
troffen. Aber immer wieder drängt sich mir der Gedanke auf, wie kommen
wir mit Ehren und ohne zu große bzw. unersetzliche Einbuße aus diesem Kriege
heraus? Ein unverdächtiger Zeuge, mein Oberstabsarzt, sagte neulich, alle
drei Kabinettchefs täten blindlings, was der Kaiser sagte. Die ganze Um-
gebung ist schließlich darauf eingestellt. (Der Kaiser sagte übrigens zu Beth-
mann und Jagow, daß sie, die Diplomatie, nicht wieder das verlieren sollte,
was das deutsche Schwert erworben. Verlegenes Lächeln der beiden). Admiral
v. Müller bedauert nun auch den Befehl, den Pohl im Auftrag vom Kaiser
an Ingenohl geschickt hat und der eigentlich den Befehl des völligen Ein-
kapselns der Flotte enthält, dabei obendrein mit Löchern, deren Ver-
wendung aussichtslos und gefährlich ist. Dies ist ein geschichtliches Doku-
ment, und ich muß dabeisitzen und kann nichts tun, um die Marine vor einer
Bläme ohnegleichen zu retten. Wenn nur der Kriegsminister ein Mann wäre,
mit dem ich mich verständigen könnte; so habe ich niemand außer Hopman,
der ebenso denkt wie ich und der mir erzählt, daß endlich die andern Herren
unter Pohl auch zur Erkenntnis gekommen wären.
Charleville, 15. X.
Es müssen freilich sehr niedrige Seelen sein, die mir zutrauen, ich wollte
aus egoistischen (wer ist die Quelle hinten herum? Es wäre doch interessant
für mich zu wissen) Gründen die Flotte vorwärts treiben. Dümmeres könnte
ich doch auch nichts tun, als die Flotte zum Schlagen und zur Tätigkeit zu
bringen, wenn ich der Meinung wäre, sie würde erfolglos sein. Weil
ich eben an ihren Erfolg glaube und weil ich in der Passivität ein Herunter-
gehen ihres Geistes erblicke, habe ich zur Tätigkeit getrieben. Es braucht ja
nicht einmal bis zur entscheidenden Schlacht zu gehen, sondern zur Entfaltung
einer Tätigkeit, die Beunruhigung hervorbringt bei den Engländern und die
Chance mit sich bringt, die Torpedoboote in der Nacht zum Angriff zu bringen.
Die jetzige Kriegsführung führt zur Tötung jeder Initiative und zur allge-
meinen Versumpfung. Damit geht auch die Flotte nach dem Kriege zugrunde.
Doch genug hiervon! Ich will mich ja auch gern resignieren, wenn ich nicht
für ganz Deutschland große Befürchtungen hegte. Niederzwingen wird man
uns nicht, aber mit der Weltstellung Deutschlands kann es leicht vorbei sein.
Es ist und bleibt merkwürdig, wie sehr unbeliebt wir sind und wie voll-
ständig unser ganzer diplomatischer Dienst zusammengebrochen ist. Es kommt
eine geradezu erschreckende Unfähigkeit an fast allen Stellen zutage. Doch
ich will noch von Antwerpen erzählen. Ich folgte den Spuren unserer Marine-
division, die sich sehr brav geschlagen hat. Der alte Seebär Schröder hat
seine Sache vortrefflich gemacht, sehr energisch und sehr tapfer. Eine Reihe