Kriegsbriefe 1914 219
von Schützengräben folgte der anderen, die Forts auf dieser Linie furchtbar
zerschossen. Die Riesenstadt Antwerpen beinahe menschenleer, und zweifel-
hafte Gestalten zeigten sich, ein merkwürdiger Anblick. Etwas ausgepreßt
wird die Marinedivision von der Armee, aber zur Entschuldigung muß man
sagen, die Not war groß. Die aus den Küstenbefestigungen zusammenge-
schrapte Matrosenartilleriebrigade, die noch nie formiert worden war, mußte
aus den Waggons heraus in die Laufgräben. Die Marinedivision hatte einen
sehr schweren Stand, eine lange Linie zu verteidigen, dazu keine Artillerie außer
unseren Bootskanonen. Dann kam Schröder und empfing mich sehr herzlich.
Es war wirklich eine Freude, mit ihm zu sprechen und ihn zu hören, nachdem
ich so lange Pohl habe aushalten müssen. Ich könnte Schröder richtig be-
neiden, nicht nur um seinen Optimismus, sondern um seine Lage. Er stand
und steht vor klaren Aufgaben und braucht nicht rechts noch links zu sehen.
Ob nun die Marinedivision, wie er hofft, von Brügge, Ostende und vielleicht
später von Calais aus so wichtige Erfolge aufzuweisen hat, ist ja nicht vor-
auszusehen, aber auf die Nerven fallen wird sie wohl den Engländern.
Churchill war zwei Tage vor dem Fall in Antwerpen gewesen, in seinem
Privatauto überall herumgerast und hatte zum rücksichtslosen Widerstand
aufgefordert. Als er sah, daß die Sache schief ging, ist er abgefahren und
soll jetzt in Frankreich sein. Schröder fuhr mich dann in Antwerpen herum.
Die endlosen Kais und Speicher zeigten fast nur deutsche Firmen: Antwerpen
sog sich aus Deutschland voll. Werden wir diese Stellung wenigstens be-
halten? Nachher aß ich mit Schröder und seinem Stab und fuhr dann noch
nach dem Fort Walhem, das furchtbar zerschossen war. Abends in Brüssel.
Gestern früh neun Uhr ab über Namur, Givet, Dinant, Revin usw., hierher,
fast nur Trümmerhaufen, ab und zu ein Ort, der gänzlich unversehrt war.
Gestern abend beim Kaiser, nichts Besonderes. Man war ganz guter Stim-
mung und hofft jetzt alles von den Reservetruppen.
Charleville, 18. X.
Was nun die Früchte der Siege anbetrifft, so werden sie bei der Leitung
die wir haben, sicher nicht ausgenützt. Vor allem aber — und das ist das
Schlimmste — noch haben wir keine Siege, die ein Ausnutzen möglich machen.
Wir hatten das Glück in der Hand und haben es verspielt. Ich möchte dar-
über mich nicht schriftlich äußern, obwohl die Wahrheit oder vielmehr die
Tatsache überall schon durchsickert. Vorläufig bleibt nur übrig: durchhalten,
so lange wie möglich, und die andern kommen lassen. Nur dann wird für
uns ein erträglicher Friede zustande kommen. Eine sehr große Enttäuschung
steht m. E. unserem Volke in jedem Fall doch bevor, wenn man seine Riesen-
leistung und seinen Blutverlust dabei berücksichtigt. Wenn wir in der inneren
Politik nicht die Zügel in die Hand nehmen, so werden wir nachber ge-
zwungen werden zu Reformen, die dann über das Verständige hinausgehen-
Das kann aber nach der Verfassung nur der Reichskanzler. Unsere Ver-
fassung paßte für den alten Kaiser und Bismarck; sie paßt aber nicht für
den Durchschnitt. Die Verfassung und Leltung steht nur auf zwei Augen,