Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Abbremsen oder hinterfeuern? 71 
Indes war ich mir unmittelbar nach der Kaiserrede darüber klar, 
daß ich nicht schweigen konnte, sondern entweder abbremsen oder da- 
hinterfeuern mußte. Im ersten Fall gingen alle Aussichten verloren. 
Im zweiten mußte überstürzte Arbeit getan werden und die Marsch- 
ordnung war verschoben. Trotzdem blieb keine Wahl. Doch wünschte 
ich wenigstens bis zum Zusammentritt des Reichstags zu warten, um 
mich mit den Abgeordneten zu besprechen. 
Der Kaiser dagegen verlangte sofortige Einbringung der Novelle. 
Auch das Zivilkabinett drängte: „Bismarck hätte doch die ganze Reichs- 
verfassung in 24 Stunden gemacht; weshalb ich so zögerte?“ Man 
wünschte die Öffentlichkeit von der „Zuchthausvorlage“ abzulenken, 
darum sollte die Marine als Objekt für Erörterungen dienen. 
Während wir also der Kaiserrede nachstießen, steckte das Marineamt 
noch in den ersten Vorarbeiten. Die Beschlagnahme deutscher Reichs- 
postdampfer durch die Engländer um die Wende des Jahres trug dann 
in die bedauerlich überhitzte Burenbegeisterung der deutschen Öffent- 
lichkeit einen Zug eigner nationaler Kränkung hinein und erleichterte 
die Einbringung der Novelle zu Anfang des Jahres 1900, zu der ich 
andauernd stürmisch vom Kaiser gedrängt wurde. Auch war nament- 
lich dank der Mitarbeit der Nationalökonomen die öffentliche Meinung 
in stärkerem Umfang gewonnen, als wir selber erhofft hatten. 
Was wir anstrebten, war, so stark zu sein, daß auch für die 
gewaltige Übermacht der englischen Flotte das Anbinden mit uns ein 
gewisses Wagnis bedeuten sollte. Hierin lag die politische Defen- 
sive ebenso wie der taktische Wille zur Schlacht in einem Ver- 
teidigungskrieg. 
Eine gewisse Volkstümlichkeit gewann also der von uns angedeutete 
Risikogedanke in der Form, daß unsere Flotte nicht größer aber 
auch nicht kleiner gehalten werden sollte, als nötig wäre, um auch der 
größten Seemacht den Angriff auf uns als ein gewagtes Unternehmen 
erscheinen zu lassen. Die Ergänzung dieses Gedankens wäre gewesen, 
daß eine beachtbare Flotte auch unsre Bündnisfähigkeit steigerte. Was 
wir über den Risikogedanken unmißverständlich sagten und dachten, ging 
in defensiver Richtung, wurde aber planmäßig von der englischen Presse 
verdreht. 
Es ist im Jahre 1900 bei Erörterung des 2. Flottengesetzes allgemein 
empfunden worden, daß Deutschland im Begriff stünde, den unvermeid-
	        
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