Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

82 Unter dem Kaiser 
diejenigen der Verantwortlichen, die im Falle des Mißlingens selbst 
vor dem Riß stehen und die Frage, bevor sie an den Kaiser gebracht 
wird, durch den Apparat ihrer Behörde bearbeiten lassen. Ein zu 
langes Verweilen der Kabinettschefs in ihrer Stellung entsprach der 
Scheu des Kaisers, seine gewohnte nächste Umgebung zu wechseln, 
entfremdete aber den mit dem höfischen Leben verwachsenden Mann 
der Front; in der Marine wenigstens herrschte das Empfinden vor, 
daß das Kabinett zu den vielfachen Mißgriffen auf seinem eigenen 
Gebiet, dem der Personalauswahl, dadurch kam, daß Admiral v. Müller 
immer mehr Hofpolitiker und immer weniger Soldat wurde. 
Jeder Versuch der in verantwortlicher Stellung befindlichen Männer, 
dem Übergreifen der Kabinette zu steuern, scheiterte schroff; denn da 
die Kabinettschefs die Form geschickt auf die allerhöchste Person zu- 
schnitten, blieb dem Kaiser die Vorstellung vom Kabinett als seinem 
bloßen Kanzlisten, der lediglich seinen Willen in Befehlsform zu bringen 
bätte. Bei Wortwechseln hat der Kaiser dies mir gegenüber mehrfach 
betont. Oft dachte ich an 1806. Besonders im Krieg ist der Nation 
die von der Kabinettssphäre ausstrahlende geringe Urteilskraft wieder 
zum Unheil geworden. Während ich unter Hohenlohe und Bülow 
eine natürliche und verfassungsmäßige Unterstützung gegen Übergriffe 
des Kabinetts fand, war bei Herrn v. Bethmann das Gegenteil der Fall. 
Auffällig war mir, daß der Reichstag, sowohl sein demokratischer 
wie sein für die Monarchie ehrlich besorgter Flügel niemals den wesent- 
lichsten Fehler des alten Regiments, nämlich den übermächtigen Einfluß 
der Kabinette bekämpft hat. Als es sich im Oktober 1918 darum 
handelte, dem Kaiser und dem Kanzler jede Macht zu nehmen, ver- 
fuhr der Reichstag unter Beiseiteschiebung der Geschäftsordnung mit 
stürzender Hast. Aber in den langen Jahren vorher hat sich die Demo- 
kratie niemals darum gekümmert, die Verfassung zu schützen. Viel- 
mehr wurde das Besie, was wir hatten, nämlich die von rein sachlicher 
Staatsgesinnung getragene Arbeit der Amter, um die uns jede Nation 
der Welt beneidete, tunlichst zwischen Demokratie und Kabinetten zer- 
rieben; geschäftig-unproduktive Kräfte der verschiedensten Färbung sind 
in Deutschland immer darin einig gewesen, schöpferische Staatstätig- 
keit zu hemmen. 
Es ist zu befürchten, daß viele, die ihre Pflicht, gegen den Ka- 
binettseinfluß zu kämpfen, während der ganzen Regierungszeit un-
	        
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