92 Marine und auswärtige Politik
wenn der richtige Führer fehlt, zur Selbstpreisgabe zu neigen
scheint, darauf hoffen, daß die Vorsehung es immer wieder durch
einen Vormund groß macht, wie Friedrich d. Gr. oder Bismarck? Sehen
wir doch in unseren Tagen die führerlosen Massen, kaum zur Macht
gelangt, mit nichts eifriger beschäftigt, als damit, alles das abzubauen
und aufzulösen, was uns an nationaler Überlieferung, Stolz und
gutem Willen geblieben ist. Es ist, als ob sie verhindern wollten, daß
je wieder ein großer Mariot aufstehen könne, um in späterer Zeit
das Volk noch einmal durch den breiten Strom seiner Selbsterniedrigung
hindurchzutragen.
Unserer mangelnden Würde im Unglück liegt wie unserer unzuläng-
lichen Zurückhaltung im Glück die Illusion zugrunde, als ob der Be-
engtheit unserer Weltstellung abgeholfen werden könnte durch Worte
und Gefühle, statt einzig durch straffgefaßte und klugverwendete Macht.
Ein gemeinsamer Grundfehler der Politik unserer Zeit war es, das
große, aber noch nicht zureichende Machtansehen, welches uns Bismarck
binterließ, stückweise aufzubrauchen durch immer wiederholte Demon-
strationen, bei denen unsere Friedensliebe, aber auch unsere Nervosität
durchschimmerte und auf die leicht ein bloßes Einknicken folgte, so daß
sich für uns die verhängnisvolle Charakteristik als „poltron valeureux“
beim Feinde festsetzen konnte. Die schlechte Gewohnheit dieser effekt-
vollen Eingriffe, von Schimonoseki, der Krügerdepesche, Manila über
die Chinaexpedition und Tanger bis Agadir u. a. führte zu dem stüm-
perhaften Schlußglied der Methode in dem Ultimatum an Serbien
vom Juli 1914. Es ging lange leidlich, dank dem Respekt, welchen
der alte preußische Staat und die Tüchtigkeit des deutschen Volkes ein-
flößten. Aber richtiger wäre es gewesen, in der Stille zu wachsen und
weitere Macht anzusammeln; denn wir standen 1914 nahe vor dem
Ziel, daß das bloße Vorhandensein unserer Macht genügte, den Frie-
den ohne Nervosität zu bewahren. Es endete in Tragik, daß die am
meisten friedliebende Politik der Welt die Ungunst unserer Lage zu
korrigieren geglaubt hat durch Gesten, welche böswilligen Feinden den
Vorwand lieferten, uns des Kriegswillens zu verdächtigen und damit
durch eine der ungeheuerlichsten Verleumdungen der Weltgeschichte
unser Bild zu entstellen.
Wir warfen uns den andern in die Arme, stießen dann wieder bei
ihnen an und versäumten kaum eine Gelegenheit, ihnen vorzuhalten,