Full text: Auswahl für das Feld.

nannte, die Ehrfurcht: die Ehrfurcht vor Gott, die Ehrfurcht vor 
den Schranken, welche die Natur den beiden Geschlechtern und 
der Bau der menschlichen Gesellschaft den Begierden gesetzt hat; 
die Ehrfurcht auch vor dem Vaterlande, das dem Wahnbilde einer 
genießenden geldzählenden Menschheit weichen soll. Auf je weitere 
Kreise die Bildung sich ausdehnt, um so mehr verflacht sie; der 
Tiefsinn der antiken Welt wird verachtet, nur was den Zwecken 
des nächsten Tages dient, scheint noch wichtig. Wo jeder über 
jedes, nach der Zeitung und dem Konversationslexikon mitredet, 
da wird die schöpferische Kraft des Geistes selten und mit ihr der 
schöne Mut der Unwissenheit, der den selbständigen Kopf aus- 
zeichnet. Die Wissenschaft, die einst zu weit in die Tiefe hinab- 
steigend das Unergründliche zu erweisen suchte, verliert sich in die 
Breite, und nur vereinzelt ragen die Edeltannen ursprünglicher 
Gedankenkraft aus dem niederen Gestrüpp der Notizensammlungen 
empor. Der übersättigte Geschmack, der das Wahre nicht mehr versteht, 
hascht nach dem Wirklichen, schätzt die Wachsfigur höher als das 
Kunstwerk. In der Langeweile eines leeren Daseins gewinnt der 
Zeitvertreib, die erkünstelte Natürlichkeit der Wetten und der Kampf- 
spiele eine unverdiente Bedeutung, und wenn wir sehen, wie un- 
mäßig man heute die Helden des Zirkus, die Tausendkünstler der 
Spielplätze überschätzt, so denken wir voll Ekels an das kostbare 
riesige Mosaikbild der 28 Faustkämpfer aus den Thermen des 
Caracalla. 
Das alles sind ernste Zeichen der Zeit. Aber niemand steht 
so hoch, daß er sein Volk nur anklagen dürfte; wir Deutschen zu- 
mal haben uns durch maßlose Tadelsucht oft an uns selbst ver- 
sündigt. Und niemand darf sagen, daß er sein Volk wirklich 
kenne. Im Frühjahr 1870 ahnten die Frohesten selber nicht, daß 
unsere Jugend schlagen würde, wie sie schlug. So wollen auch 
wir hoffen, daß heute in den Tiefen unseres Volkes verjüngende 
Kräfte wirken, die wir nicht ahnen. Und wie viel Unvergäng- 
liches ist uns trotz alledem aus dem großen Kriege geblieben. Das 
Reich steht aufrecht, stärker als wir jemals erwarteten; sein mäch- 
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