immer sich selbst getreuen Genius wieder. Uber diese Höchstge-
bildeten der Nation gewannen Goethes Leben und Werke nach
und nach eine stille unwiderstehliche Gewalt, die von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt nur immer mächtiger wurde; es ist sein Verdienst, daß
Wilhelm Humboldt sagen konnte, nirgendwo sonst werde das eigent-
liche Wesen der Poesie so tief verstanden wie in Deutschland. Aus
Luthers Tischreden hatten die Deutschen einst erfahren, was es heiße
ganz in Gott zu leben, in jeder einfachen Schickung der vierund-
zwanzig Tagesstunden die Allmacht und Liebe des Schöpfers zu
empfinden. Jetzt verkörperte sich die neue Humanität in einem
gleich mächtigen und ursprünglichen Menschendasein; aus Goethes
Leben lernte der frohe Kreis der dankbar Verstehenden, wie dem
Künstlergeiste jede Erfahrung zum Bilde wird, wie die freieste
Bildung zur Natur zurückkehrt, wie vornehmer Stolz mit Herzens-
einfalt und demokratischer Menschenliebe sich verträgt. Schillers
Wirksamkeit ging, wie es das Recht des Dramatikers ist, mehr in
die Breite; ihm gehörte das Herz der schwärmerischen Jugend;
sein sittlicher Ernst packte die Gewissen; sein freudiger Glaube an
den Adel der Menschheit war allen ebenso verständlich, wie die
funkelnde Pracht seiner nichts verhüllenden Sprache. Es ist sein
Verdienst, daß die Freude an der neuen Bildung sich in weiten
Kreisen verbreitete — soweit diese Literatur volkstümlich sein konnte;
durch die mächtige Rhetorik seiner Jungfrau von Orleans wurden
sogar die Höfe von Berlin und Dresden aus ihrer gründlichen
Prosa aufgeschüttelt. Goethe hatte schon als Jüngling an dem
Bilde des Straßburger Münsters sich begeistert und damals schon,
zuerst unter den Zeitgenossen, einen Einblick gewonnen in das Leben
unseres Mittelalters; er liebte, das Altertümliche in den Reichtum
seiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller dagegen
war ein durchaus moderner Mensch, modern in Empfindung und
Rede, ohne Sinn für das deutsche Altertum und ebendeshalb po-
pulärer; denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergessen hatte, ver-
langte nach dem Neuen und Blanken.
In Italien verbrachte Goethe seine zweite Jugendzeit, er lebte
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