Full text: Auswahl für das Feld.

Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei— 
heit zeigte. Niemand hat die kleinliche Zersplitterung des deutschen 
Lebens und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kunst schmerz— 
licher empfunden als Goethe. Uber seinen Wilhelm Meister sagte 
er geradezu: da habe er nun „den allerelendesten Stoff, Komö- 
dianten und Landedelleute“ wählen müssen, weil die deutsche Ge- 
sellschaft dem Dichter keinen besseren biete; und im Tasso schilderte 
er die trotz aller Feinheit der Bildung doch drückende Enge des 
Lebens an kleinen Höfen mit einer Bitterkeit, welche nur aus selbst- 
erlebter Pein stammen konnte. 
Nicht bloß die natürliche Anlage des deutschen Geistes, der am 
Gestalten der Charaktere mehr Freude findet als am Erfinden 
spannender Situationen, sondern vor allem die Verkümmerung 
unseres öffentlichen Lebens hat es verschuldet, daß der Humor, 
der noch in unserem lebensfrohen sechzehnten Jahrhundert so präch- 
tige Funken schlug, in dieser Blütezeit deutscher Dichtung sich so 
selten zeigte. Das Lustspiel konnte dem kühnen Aufschwunge der 
Tragödie nicht folgen. Die Komödie wurzelt immer in der Gegen- 
wart und blüht nur in Völkern, die unbefangen an sich selber 
glauben, sich herzhaft wohl fühlen in der eigenen Haut; sie bedarf 
fester nationaler Sitten und Anstandsbegriffe, wenn sie nicht will- 
kürlich, gemeinverständlicher sozialer Kämpfe und Interessen, wenn 
sie nicht platt werden soll. Von alledem waren in der langsam 
wieder auflebenden deutschen Nation erst schwache Anfänge vor- 
handen. Der beliebteste Lustspieldichter der Zeit, Kotzebue, ein 
Talent von unverächtlicher komischer Kraft, widerte edlere Naturen 
an, nicht bloß durch die angeborene Gemeinheit eines durchaus 
flachen Geistes, sondern mehr noch durch die Erbärmlichkeit der 
Verhältnisse, die er schilderte, und durch die Unsicherheit seines sitt- 
lichen Gefühls, das zwischen weinerlicher Schwäche und schmunzeln- 
der Frechheit haltlos schwankte. Auch Jean Paul, der einzige, der 
damals mit hohen künstlerischen Absichten sich dem Dienste der 
komischen Muse widmete, ward durch die zerfahrene Unfertigkeit 
des deutschen geselligen Lebens zugrunde gerichtet. Seine Gestalten 
261
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.